Frankfurt a. M. – Nennen wir den 13-jährigen Jugendlichen einfach mal Dennis. Ihn lockt der Frühling mit ersten, warmen Sonnenstrahlen. Klare Luft. Vogelgezwitscher.
Also nichts wie raus an die frische Luft! Durch ergrünende Wiesen toben, Spaß haben, sich auspowern. Bis an den Rand der Erschöpfung. Herrlich! Und zwischendurch mit dem Krummschwert ein paar Zombies köpfen …
Moment mal – Zombies?
Tja, genau das ist der Schönheitsfehler an diesem Idyll: Als nicht ganz untypischer deutscher Jugendlicher tollt Dennis längst nicht mehr selber durch die Natur. Er lässt lieber tollen. Den taffen Helden seines Konsolenspiels nämlich. Diese Kunstfigur ist und bleibt aufgrund ihrer Programmierung beneidenswert fit.
Dahingegen erscheint Dennis als genaues Gegenteil. Beweglich sind bei ihm allenfalls die Daumengelenke, mit denen er tagein, tagaus die Joysticks seiner Spieletastatur wirbeln lässt. Nicht minder oft tritt auch noch Dennis’ Zeigerfinger in Aktion. Wobei sich der nur ein bisschen krümmen muss, um gemeinsam mit dem Daumen wie ferngelenkt wieder und wieder in die XXL-Kartoffelchips-Tüte zu langen. Nicht zu knapp, wie man leider sieht: Seine Statur macht sichtbar, dass Dennis ein heißer Anwärter für Adipositas ist. Wenn ihn diese krankhafte Fettleibigkeit nicht schon längst am Wickel hat. Mit gerade mal 13!
»Dass schon Jugendliche von Adipositas betroffen sind – diese Zustände kann man leider nicht als Einzelfälle verharmlosen«, stellt Edmund Fröhlich fest. Der muss es wissen. Als Diplom-Pädagoge hat er u. a. als ehemaliger Leiter von Adipositas-Kliniken authentische Erfahrungen sammeln müssen. Mit einem buchstäblich »schweren« Problem, das inzwischen sogar die EU-Kommission auf den Plan gerufen hat: die rasante Verbreitung von Adipositas bei Jugendlichen.
Sogar ein Sachbuch hat der Familienvater über die Adipositas geschrieben, die unter Jugendlichen grassiert. »Generation Chips« nannte Edmund Fröhlich die Betroffenen sprachgewandt in seinem Werk, welches bereits 2007 erschienen ist. Aus gutem Grund: »Knabberkram wie etwa Kartoffelchips bilden immer häufiger fast die einzige Ernährungsquelle vieler Jugendlicher. Und statt natürlicher Bewegung gibt’s nur noch virtuellen Mattscheiben-Sport, erzeugt von Mikro-Chips.« Mangelernährung plus Mangelbewegung: Man muss nicht erst Medizin oder Ernährungswissenschaften studiert haben, um die bösen Folgen dieser bedenklichen Kombination gerade bei Jugendlichen abschätzen zu können.
Zumal die Fakten klar auf der Hand liegen. Sie sollten schockieren. Aufrütteln. Und bleiben dennoch viel zu oft ohne angemessene öffentliche Reaktion. »Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO ist im EU-Raum bereits jedes dritte Kind zwischen 6 und 9 Jahren übergewichtig oder sogar von Adipositas betroffen«, macht Edmund Fröhlich deutlich. »Allein in Deutschland sind 800.000 Kinder und Jugendliche nicht nur zu dick, sondern adipös, also krankhaft übergewichtig. Unser Gesundheitswesen ächzt unter den Ausgaben von 70 Milliarden Euro, die Jahr für Jahr im Rahmen der Adipositas-Behandlung fällig werden.«
Wobei die Grenzen zwischen »bloßem Übergewicht« und Adipositas ersten, zweiten oder dritten Grades fließend sind. Letzten Endes, so Edmund Fröhlich, seien diese akademischen Feinheiten zweitrangig. »Egal ob ›nur zu dick‹ oder regelrecht ›fettsüchtig‹: Wer in einem so jungen Alter schon von Adipositas bedroht oder gar betroffen ist, hat es in einem überaus tragischen Wortsinn deutlich ›schwerer‹ im Leben. Jugendliche mit Adipositas haben mit körperlichen Problemen zu kämpfen, werden von Gleichaltrigen ausgegrenzt und zum Einzelgänger wider Willen. Sie haben drastisch weniger Chancen auf dem Ausbildungsmarkt. Das Selbstwertgefühl geht also bei jedem wichtigen Entwicklungsschritt dieser Jugendlichen immer stärker gegen null. Sie bleiben allein; unverstanden. Sie verkriechen sich Schutz suchend in ihren eigenen vier Wänden. Bei Pizza, Chips, Cola und Computerspielen. Ursache und Wirkung verschmelzen.«
Das schier übermächtige Versuchungs-Duo namens »Spielkonsole & Zuckerkram« bildet für Edmund Fröhlich aber nur ein Glied in der Ursachenkette. Als langjähriger Manager nicht nur in Gesundheits- sondern auch Sozialeinrichtungen legt er den Finger in eine andere, in eine gesellschaftliche Wunde: »Das Problem Adipositas bei Jugendlichen tritt bei sozial schwachen Bevölkerungsschichten deutlich häufiger auf. Die Gründe für diese Entwicklung erscheinen naheliegend: Gesunde und ausgewogene Ernährung muss man sich ja erst mal leisten können. Finanziell. Zeitlich. Kognitiv. Vom Nährwert her bedenkliche Fertiggerichte und Fastfood schonen leider das Zeit- und Geldkonto. Und sie bereiten deutlich weniger Mühe und Kenntnisse beim Vorbereiten und Kochen. Kein Wunder also, dass gesundes Essen gerade in diesen sozialen Gruppen schon seit Generationen ›verlernt‹ worden ist. Und dass die, die es ›nicht so dicke haben‹, leider immer dicker werden.«
Apropos lernen: Können wenigstens unsere Schulen die Ausbreitung von Adipositas bei Jugendlichen unterbinden? Genau diesen positiven Effekt erhofft sich die EU-Kommission von ihrem jüngsten Vorstoß. Nach ihrem Willen sollen die bisher getrennten Bereiche »Schulmilchregelung« und »Schulobstprogramm« zusammengefasst werden. Ziel: Die Schüler in der gesamten EU sollen auf den Geschmack gebracht werden. Und zwar für Milch, Milchprodukte, Obst und Gemüse. Deren Verzehr geht in Klassenräumen und auf Schulhöfen in alarmierendem Ausmaß zurück, wie auch Edmund Fröhlich beklagt: »Schüler beißen inzwischen lieber in ernährungstechnisch fragwürdige Fabriknahrung als in einen frischen Apfel.«
Fraglich erscheint, ob allein durch EU-typische Regulierungswut das im wahrsten Sinne zunehmende Problem Adipositas bei Kindern und Jugendlichen gelöst werden kann. Gesunde Ernährung einfach anordnen oder auf den Stundenplan setzen? Wo die Institution Schule gerade bei sozial hintanstehenden Kids doch eh schon oft ein rotes Tuch ist?
Diese Skepsis teilt auch Edmund Fröhlich: »Die gesellschaftlichen Zusammenhänge, die zur Verbreitung von Adipositas bei Kinder und Jugendlichen beitragen, sind überaus vielschichtig. In Schulen eine gesunde Ernährung zu propagieren wird allein nicht reichen, um den Trend zu stoppen. Was wir brauchen, ist ein breiterer gesellschaftlicher Konsens. Das Bewusstsein eben, dass der übermäßige Griff zu Knabbereien und Videospielen gesellschaftliche und politische Ursachen hat, die durch Kommissar-Beschlüsse und noch so gut gemeinte Schulprogramme nicht ansatzweise beseitigt werden können.«