(Hamburg, 16. April 2014) Forschung für therapeutischen Fortschritt ist zwingend notwendig und ohne Frage der Wunsch von Ärzten und Patienten. Aber nicht alles, was neu zugelassen wird, ist eine wirkliche Innovation im Sinne von Efficacy und Effectiveness. Kritisiert wird insbesondere, dass die frühe Nutzenbewertung keine Effizienzprüfung im Vergleich zu bewährten Therapeutika erfordert, und sowohl der patientenorientierte Benefit als auch die Betrachtung unter realen Versorgungsbedingungen unberücksichtigt bleiben.
Jedes in Deutschland mit einem neuen Wirkstoff eingeführte Arzneimittel muss seit 2011 seinen Zusatznutzen gegenüber vorhandenen Therapeutika beweisen. Die frühe Nutzenbewertung ist eine Herausforderung für die Pharmaforschung – doch ist der Nutzen tatsächlich vor der breiten Anwendung in der Praxis objektiv darstellbar? Kaum, meint der Gesundheitsökonom Prof. Dr. Gerd Glaeske, denn zum Zeitpunkt der Markteinführung ist nicht vollumfänglich bekannt, welchen therapeutischen Fortschritt die neuen Arzneimittel im realen Versorgungsalltag haben, und ob damit tatsächlich ein therapeutischer Fortschritt für die Patienten verbunden ist. Glaeske hat für den „TK Innovationsreport 2014“ zahlreiche neue Wirkstoffe aus 2011 untersucht und in einem Ampelschema bewertet: Nur 15% der neuen Arzneimittel bieten einen Vorteil für die Patienten, bei 50% ist dieser nur bedingt vorhanden, und bei 35% kann gar kein zusätzlicher Nutzen für Patienten festgestellt werden. Glaeske spricht von vielen Scheininnovationen, die aufgrund ihres vermeintlich innovativen therapeutischen Effekts hochgelobt werden, in die Versorgungspipeline gelangen und dort auch bewährte Therapeutika verdrängen. Ein gutes Beispiel sind die Kontrazeptiva der 3. und 4. Generation, die im Verhältnis zu denen der 2. Generation ein sehr hohes Risikopotenzial bergen und trotzdem häufiger verordnet werden. Oder die Verdrängung der Nitrate bei Angina Pectoris, was dazu führt, dass immer häufiger Patienten mit akuten Beschwerden als Notfall ins Krankenhaus eingeliefert werden, was durch das bewährte Nitrospray in den meisten Fällen verhindert werden könnte. Glaeske mahnt eine skeptische Grundhaltung gegenüber neuen Arzneimitteln an und plädiert für ein Konzept des therapeutischen Fortschritts sowie den Ausbau der Versorgungsforschung für jeden neuen Wirkstoff.
Bei gebotener Skepsis dürfen aber die großen Erfolge der innovativen Pharmakotherapie insbesondere im Bereich gravierender und häufiger Erkrankungen nicht außer Acht gelassen werden. Dr. Markus Frick (vfa) weißt auf die deutlich gestiegene Lebenserwartung bei Herz-Kreislauf- und Krebs-Erkrankungen aufgrund neuer Medikamente hin. Er bricht die Lanze für die frühe Nutzenbewertung und erläutert anhand der Onkologie: Zulassungsrelevant ist der Nachweis der Tumorverkleinerung. Aber erst nach Jahren kann etwas zur Überlebensrate und zum allgemeinen Patientennutzen gesagt werden. Insofern sollte die Evidenzgenerierung über den gesamten Lebenszyklus des Medikaments erfolgen. Der Preisdiskussion könnte man entgehen, wenn den Unternehmen bessere Anreizsysteme zur Refinanzierungs ihres Entwicklungsaufwandes – rund 1,2 Mrd. Euro pro Wirkstoff – angeboten würden. Auch sollten durch mehr Transparenz auf die Arzneimittel fokussiert werden, denen ein tatsächlicher Zusatznutzen attestierter wird.
Was im Arzneimittelbereich kritisch hinterfragt wird, existiert in anderen Gesundheitsbereichen noch gar nicht. Die Bundestagsabgeordnete Maria Klein-Schmeink (Bündnis 90/Die Grünen) macht sich für die Nutzenbewertung für den Krankenhausaufenthalt und eine rationale Debatte über Daten zur ambulanten versus stationäre Versorgung stark. Auch sollten dringend strukturierte und kontrollierte Verfahren für den Eingang neuer Behandlungsmethoden in die Krankenhäuser installiert werden. Maria Klein-Schmeink plädiert für Innovationszentren und unabhängige Zulassungsstellen für Medizinprodukte. Wichtig sei auch eine bessere Finanzierung der Basisversorgung in den Kliniken, damit beispielsweise auch ländliche Kliniken überleben können, ohne auf teure Operationen setzen zu müssen. Dass in Deutschland grundsätzlich zu viel operiert wird, bestreitet Prof. Dr. Wolfram Mittelmeier. Der Rostocker Klinikchef sieht in der Operationszahl, die nicht nur im Bereich der Endoprothetik überdurchschnittlich ist, vielmehr den hohen Versorgungsgrad in Deutschland. Häufig werde viel zu lange konservativ behandelt und damit eine notwendige, dem Patienten nützende Behandlung verzögert. Im Ergebnis werde es oft teurer. Mittelmeier plädiert für Langzeit-Patientenregister, die Schlussfolgerungen zum Wert von Operationen und eingesetzten Medizinprodukten zulassen.