Ein kleiner, unscheinbarer Moment im Alltag: Ein
Spaziergang, früher genossen, wird zum mechanischen Abschreiten einer
Wegstrecke. Ein Lied, das unser Herz höher schlagen ließ: Nur noch
eine Abfolge von Tönen.
Wolfgang Blohm, ärztlicher Leiter einer Klinik für Hypnotherapie,
verortet hier die gemeinsame Wurzel verschiedenster seelischer
Erkrankungen, die den Krankenstand aufgrund psychischer Ursachen in
den letzten Jahren haben explodieren lassen. "Lost-Sense-Syndrom"
nennt der Psychotherapeut die anfängliche Selbstentfremdung in seinem
neuen Buch "Entschuldigen Sie, wer bin ich?".
Seine ermutigende Botschaft: Auch in einer beschleunigten Kultur,
in der eine schnelle Lösung in Form von Psychopharmaka zur gängigen
Praxis gehört, können wir uns als mündige Menschen Inseln des
Selbsterlebens zurückerobern, die uns wieder mit unserem Kern
verbinden - wenn es gelingt, seelische Botschaften wahrzunehmen und
zu beherzigen, bevor sie als Erkrankung Form annehmen. Was sich dabei
in seiner therapeutischen Praxis als hilfreich erwiesen hat, bringt
Blohm ebenso auf den Punkt wie seine Kritik an einer Medizin, die
teilweise das Wohl des Menschen aus dem Blick verloren hat.
Die Zahl der Menschen mit seelischen Erkrankungen hat sich in
Deutschland während der letzten zehn Jahre mehr als verdoppelt.
Stress ist allgegenwärtig. Und eine Fassade, die einen in allen Lagen
souverän erscheinen lässt, gilt vielen in Zeiten der
Selbstoptimierung als unverzichtbarer Pluspunkt der eigenen
Lebenstauglichkeit. Doch was verbirgt sich dahinter? Wolfgang Blohm
ist der Auffassung, dass die am häufigsten diagnostizierten
psychischen Krankheitsbilder ein vorgelagertes Stadium vereint, das
alle Menschen betrifft: Die Gefahr, den Kontakt zu sich und den
eigenen Sinnen zu verlieren. Bemerkbar machen kann sich dies als ein
vages Gefühl des Unbehagens und der Fremdheit, das im Trott der zu
bewältigenden Alltagsaufgaben rasch beiseitegeschoben wird.
Eine mögliche Folge: Das Entscheiden in eigentlich banalen
Situationen gerät zunehmend zu einem komplizierten Konstrukt, das
nicht mehr nach Gefühl, sondern nur noch nach Abwägung zahlreicher
Argumente vonstattengehen kann. Allmählich verabschiedet sich die
altbekannte Sicherheit. Gefühle verblassen. In diesem Stadium der
Entwicklung des Lost-Sense-Syndroms treten zunehmend Angstsymptome
auf, die neben der Gefühlsebene auch weitere Organbereiche betreffen
können.
"Angemessene und wirklich authentische Maßstäbe zur Gestaltung des
eigenen Lebens lassen sich nur in der eigenen Mitte zuverlässig
finden", ist Blohm überzeugt. Ist diese nicht mehr zugänglich, kann
das zunächst durch immer größere Anstrengungen kompensiert werden.
Eine Spirale, die über längere Zeit in Aussichtslosigkeit und
Erschöpfung führt. Blohm beschreibt, wie Umwälzungen in Familie,
Beruf und Mediennutzung dieser Entwicklung Vorschub leisten: So
glänzend und so allgegenwärtig ist die Verheißung eines rundum
spaßigen Lebens, dass Langeweile kaum noch tolerierbar ist.
Ewige Leichtigkeit - die Latte hängt hoch. Mit dem Bedürfnis, der
vorgegaukelten "Norm" gerecht zu werden, wächst die Verführbarkeit
durch Werbebotschaften, die ein Produkt als Lösung anpreisen. Was
bleibt, ist immer wieder die Enttäuschung, dass das eigene Erleben
nicht Schritt halten kann mit dem Suggerierten. "Unterschwellig
taucht dann immer häufiger das Gefühl auf, zu dieser heilen und
lustvollen Welt keinen Zutritt zu haben", so Blohm. Auch in der
Medizin treiben Normen seltsame Blüten: Angehörigen, die nach einem
Trauerfall betrübt sind, werden beispielsweise nur noch drei Monate
zugestanden - danach greift die Diagnose "Depression". Mit
entsprechender pharmakologischer Behandlung. "Durch die Einnahme
werden die Gefühle weiter verfremdet, eine Re-Orientierung kann kaum
noch gelingen. Das dient der Indusrie, hält den Menschen aber krank",
konstatiert der Mediziner.
Blohms Antwort besteht darin, Gefühle wieder als System der
inneren Wahrnehmung wertschätzen zu lernen. Gefühle seien angebunden
an das innere Archiv, in dem alle Erlebnisse gespeichert sind: ein
ständig wachsendes Reservoir mit schier unbegrenzten Fähigkeiten zur
Problemlösung, zur Lebensgestaltung und zur Orientierung. Mit
Übungen, die im Buch vorgestellt werden, kann die Gefühlswahrnehmung
immer filigraner, das Empfinden auf körperlicher Ebene immer besser
in einen Zusammenhang gebracht werden. "Informationen aus der inneren
Mitte spüren, nutzen, analysieren, Änderungen planen und einleiten.
Das hält gesund", resümiert Blohm.
Wolfgang Blohm
Entschuldigen Sie, wer bin ich?
Wege aus dem Lost-Sense-Syndrom zurück in die eigene Identität
220 Seiten, Broschur
17,95 EUR
Verlag J.Kamphausen
ISBN 978-3-89901-900-1
Auch als E-Book erhältlich
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