fit und munter - Inklusion: Kinder- und Jugendärzte fordern ehrliche Zwischenbilanz und politische Konsequenzen

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Inklusion: Kinder- und Jugendärzte fordern ehrliche Zwischenbilanz und politische Konsequenzen


Welche Versorgung Kinder und Familien mit einem
besonderen Bedarf wirklich brauchen, wird in der jüngsten großen
Kindernetzwerk-Studie eindrücklich aufgezeigt. Etwa die Hälfte der
Kinder befragter Familien haben starke bis vollständige
Einschränkungen im Bereich des schulischen Lernens, dennoch sind mehr
als 60 % ihrer Eltern nicht über die rechtlichen Möglichkeiten zur
Inanspruchnahme von integrativen Leistungen in Kita und Schule
informiert oder mit den Verfahren überfordert. Fast in jeder 7.
Familie mit einem mehrfach behinderten Kind wird die Lebensqualität
als schlecht bis sehr schlecht bezeichnet, bei Familien mit einem
gesunden Kind hingegen "nur" in jeder 17. Familie. Die Eltern
beklagen vornehmlich höhere gesundheitliche und allgemeine
Belastungen und eine Reduktion von Sozialkontakten.

Diese "Exklusion" von Eltern behinderter Kinder ist sicher nicht
im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention. Und schon gar nicht im
Sinne der Kinder, die doch Inklusion erleben und erfahren sollen und
dazu eines ausreichenden und stabilen sozialen Netzwerks in und um
die Familie bedürfen, stellt Dr. Ulrike Horacek, Vorstandsmitglied
der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin
(DGSPJ) ernüchternd fest.

Vielen geht der Inklusionsprozess zudem zu langsam. Generell
vermissen alle an der Inklusion Beteiligten (Eltern, Lehrer,
Erzieher) eine angemessene und nachhaltige Unterstützung, beklagt
Ulrike Horacek. Welche Konsequenzen und Forderungen ergeben sich
daraus? Zunächst einmal sollte die Inklusions- und Fachberatung im
Kita-Bereich ausgebaut werden, fordert die DGSPJ, um bei Eltern und
im Umfeld bereits früh eine inkludierende Grundhaltung zu befördern.
Die pädagogischen Mitarbeiter benötigen hierfür jedoch besondere
Unterstützung. Nicht nur das Alters-, Entwicklungs- und
Nationalitätenspektrum erweitert sich, sondern zunehmend auch die
Bandbreite von Krankheiten und Behinderungen, mit der sie sich im
Alltag auseinandersetzen müssen.

Das Bundesland Hessen hat bereits 2013 eine Vorreiterrolle
übernommen und für Fachkräfte in der Kindertagesbetreuung eine
Inklusions-und Fachberatung implementiert. Zu den Modulen gehören
präventive Beratung im Vorfeld der Betreuung eines Kindes mit
besonderem Bedarf, interdisziplinäre Besprechungen anonymisierter
Fälle und Supervision. Weit überwiegend werden diese Angebote von
Wohlfahrts- und freien Verbänden unterbreitet, die auch Eltern
Hilfestellung bei der Beantragung von Integrationsmaßnahmen geben.

An den Schulen sollten multiprofessionelle Teams eingesetzt
werden, für die nicht nur räumliche und sachliche Rahmenbedingungen
bereitzustellen sind. Durch sie muss auch die pflegerische und die
inklusive schulpsychologische und sozialarbeiterische Kompetenz
bereitgestellt werden, um damit auch (Sonder-)Pädagogen entlasten zu
können. Denn nicht von ungefähr kommt eine bundesweite Befragung von
Pädagogen zum Ergebnis: "Inklusion mit der Brechstange überfordert
Lehrer".

Gerade eine angemessene medizinische Versorgung von kranken
Schülern in Regelschulen dürfe nicht zu kurz kommen, warnt die DGSPJ.
Sie umfasst häufig auch einen umschriebenen Bedarf an Grund- und
Behandlungspflege oder spezieller Krankenbeobachtung (z.B. bei
medikamentöser Neueinstellung eines Anfallsleidens oder bei
ausgeprägtem ADHS). Auch der Einsatz einer schuleigenen Fachkraft mit
Expertise in der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege kann sehr
nützlich sein. Die DGSPJ unterstützt das Konzept der
"Schulgesundheitsschwester". Und auch das bewährte Angebot
niederschwelliger Beratung in Schulsprechstunden durch Kinder- und
Jugendärzte des ÖGD sollte ausgebaut werden.

Dennoch darf man bei der Inklusion nicht sich und die Systeme
überfordern. Nicht alle Kinder können jederzeit in Regelschulen
optimal betreut und gefördert werden. Es gibt durchaus vulnerable
Kinder, die (vorübergehend) besonders schutzbedürftig sind oder vor
deren Aggressionspotential andere Schüler geschützt werden müssen.
Horacek: "Sich das einzugestehen, ist kein Zeichen von mangelndem
Engagement oder gar Versagen, sondern von Ehrlichkeit und
entideologisiertem Denken."

"Inklusion ist also nicht immer und nicht um jeden Preis möglich",
argumentiert die DGSPJ. Gerade Eltern sprechen sich häufig - oft nach
leidvollen Erfahrungen - für den Erhalt von Förderschulen aus, die
dem besonderen Bedarf ihres Kindes besser entsprechen. Letztlich kann
die viel beschworene Wahlfreiheit der Eltern auch nur dann zum Tragen
kommen, wenn es wirklich verschiedene Optionen gibt.

Zum Beispiel die "Inklusion umgekehrt" (reverse inklusion), die
etwa an der Betty-Hirsch-Schule in Stuttgart seit 2011 umgesetzt
wird. Diese Förderschule für seh- und hörbehinderte Schüler hat sich
für nicht beeinträchtigte Kinder geöffnet. Das Zahlenverhältnis in
den kleinen Klassen hat sich sogar umgedreht (2/3 nicht
beeinträchtigte und 1/3 sinnesgestörte Kinder). Eine besonders gute
pädagogische Versorgung sowie gute räumliche und technische
Rahmenbedingungen zeichnen das Konzept dieser Privatschule aus, die
aber auch über Spenden getragen werden muss. Dennoch wollen das
Kindernetzwerk und die DGSPJ auch die "reverse inklusion" als eine
Option für die Gestaltung von Inklusion weiter voranbringen und
strukturell stärken.



Pressekontakt:
Dr. Ulrike Horacek
Kinder- und Jugendärztin
Leiterin des Gesundheitsamtes Kreis Recklinghausen
DGSPJ- Vorstandsmitglied
Mail: u.horacek@kreis-re.de
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