Sperrfrist: 08.08.2016 18:00
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Im vergangenen Jahr haben Pharma-Unternehmen Ärzten für die
Teilnahme an sogenannten Anwendungsbeobachtungen (AWB) Dutzende
Millionen Euro gezahlt. Das zeigen Recherchen von NDR, WDR,
Süddeutscher Zeitung und dem gemeinnützigen Recherchebüro Correctiv.
Insgesamt liefen 2015 mehr als 600 Anwendungsbeobachtungen. Über 150
neue AWB wurden gestartet - mehr als in den vorherigen zwei Jahren.
Die Studien haben eine Laufzeit von teils mehreren Jahren, bei
manchen sogar mehr als zehn oder 20 Jahre. Die vereinbarten Honorare
liegen in der Regel bei mehreren Hundert, manchmal sogar bei mehreren
Tausend Euro pro Patient. Etwa jeder zehnte niedergelassene Arzt nahm
2015 nach Angaben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) an
solchen Studien teil: insgesamt knapp 13.000 Mediziner, außerdem rund
4000 Klinikärzte.
Bei Anwendungsbeobachtungen übermitteln Ärzte Daten, die sie
routinemäßig bei ihren Behandlungen erfassen, an die Auftraggeber -
meist sind dies Pharmaunternehmen. Kritiker bezeichnen diese Form von
Studien als "legale Form von Korruption". Aus ihrer Sicht haben viele
dieser Studien keinen wissenschaftlichen Nutzen. Ärzte könnten aber
durch die Honorare dazu animiert werden, bestimmte Mittel zu
verschreiben. Bei einem großen Anteil der Anwendungsbeobachtungen
gehe es darum, Ärzten durch das Honorar eine Motivation zu geben,
"Arzneimittel zu verordnen, die sie sonst eigentlich gar nicht
verordnen sollten", sagt der Vorsitzende der Arzneimittelkommission
der deutschen Ärzteschaft, Wolf-Dieter Ludwig. Er spricht sich
deshalb für eine Gesetzesverschärfung aus. Er fordert ein Verbot für
AWB, bei denen kein wissenschaftlicher Wert zu erkennen sei. Ein
unabhängiges Gremium solle dies prüfen. Dies sei die einzige
Möglichkeit, "Spreu von Weizen zu trennen". Es gebe einen kleinen
Prozentsatz an AWB, die Sinn machten. Aber: "Der Großteil dieser
Anwendungsbeobachtungen ist eindeutiges Marketing und gehört
verboten", so Ludwig.
Pharma-Unternehmen müssen Anwendungsbeobachtungen zwar bei den
zuständigen Behörden melden, aber nicht genehmigen lassen. Außerdem
werden zwar die Meldungen zu den Studien veröffentlicht - allerdings
meist ohne Angaben zur Höhe der Honorare.
SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach kritisiert diese mangelnde
Transparenz. Dabei hatte die Pharmaindustrie in den vergangenen
Monaten noch mehr Offenheit versprochen. Der Verband forschender
Arzneimittelhersteller (VfA) hatte eine Transparenz-Initiative
gestartet. Ende Juni haben erstmals mehrere Pharma-Unternehmen Zahlen
zu ihren Zuwendungen an Ärzte veröffentlicht. Doch konkrete Honorare
für umstrittene Anwendungsbeobachtungen (AWB) sind davon ausgenommen,
sie sollen weiter geheim bleiben.
Von der freiwilligen Transparenz-Initiative der Pharmaindustrie
habe er sowieso nichts gehalten, sagt nun Lauterbach. Er plädiert
ebenfalls für eine Gesetzesverschärfung. AWB sollten auf das
unbedingt notwendige Maß begrenzt werden, auf solche, die von
Behörden vorgeschrieben sind, um die Sicherheit der Mittel nach der
Markteinführung zu überwachen. Außerdem dürften dann auch nur kleine
Bezahlungen zugelassen werden, so Lauterbach. Denn viele derzeitige
AWB führten zu "Fehlbehandlungen und Geldverschwendung". Allerdings
sei solch ein Gesetz in der Großen Koalition nicht durchsetzbar,
beklagt Lauterbach. Er warte auf die nächste Gelegenheit, die
Bundestagswahl 2017. Doch auch aus der Union kommen mittlerweile
kritische Töne in Richtung der Pharmaindustrie: "Die Freiwilligkeit
hat offenbar Lücken, wir werden das jetzt weiter beobachten", sagt
die gesundheitspolitische Sprecherin der Unions-Fraktion, Maria
Michalk. "Wenn sich nichts tut, denken wir über eine verpflichtende
Transparenz auch für Anwendungsbeobachtungen nach."
Die Intransparenz scheint dabei System zu haben: Sogar die
Pharmaindustrie selbst weiß offensichtlich nicht genau, wie viele
dieser Studien laufen. Im Juli veröffentlichte der Verband der
forschenden Arzneimittelhersteller (VfA) eine Pressemitteilung. Hier
ist die Rede von "nicht-interventionellen Studien" (NIS), ein
Oberbegriff, unter dem die Anwendungsbeobachtungen ebenfalls erfasst
werden. Der Verband schreibt, seine Mitgliedsunternehmen hätten "nur
37 NIS" in 2015 initiiert. Tatsächlich waren es deutlich mehr, das
zeigt die Auswertung von NDR, WDR, SZ und Correctiv. Demnach haben
die Firmen etwa 50 AWB begonnen, hinzu kommen knapp 30
Beobachtungsstudien, die von Behörden angeordnet wurden und die
ebenfalls zu den NIS zählen. Diese Angaben stammen von der
Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). Dort müssen alle NIS
inklusive Angaben zu den Honoraren gemeldet werden. Diese Daten
werden jedoch nicht veröffentlicht.
Auf Nachfrage zu der Diskrepanz teilte der VfA mit, er habe die
öffentlich zugänglichen Datenbanken des Bundesinstituts für
Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) und des
Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) genutzt. Sie hätten jetzt aufgrund der
Recherche von NDR, WDR, SZ und Correctiv die Register erneut
durchsucht. Dabei seien sie nunmehr auf 41 AWB ihrer Mitglieder (ohne
Töchterunternehmen) gekommen. Die Datenbank der KBV hätten sie nicht
verwendet, da sie nicht öffentlich zugänglich sei. Auf der
Internetseite http://correctiv.org/awb sind jetzt alle Daten der KBV
zu Anwendungsbeobachtungen aus den Jahren 2009 bis 2015 einsehbar.
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