(Mynewsdesk) Zwischen 12.000 und 58.000 Patienten werden Hochrechnungen zufolge jährlich in Deutschland durch unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) dauerhaft geschädigt oder sterben. Zudem sollen in Deutschland etwa 1,5 Prozent aller Klinikeinweisungen im Zusammenhang mit UAW stehen, von denen insbesondere Menschen betroffen sind, die polypharmazeutisch behandelt werden.
Fast drei Viertel (73,3 Prozent) aller Menschen, die an mehreren Krankheiten leiden, bekommen fünf und mehr Medikamente verordnet, die sie parallel einnehmen sollen. Das ist das Ergebnis der aktuellen hkk-Studie zum Thema Polypharmazie (Multimedikation). Besonders betroffen sind demnach Patienten ab 65 Jahre. Deshalb hatte bereits der hkk-Gesundheitsreport 2011 das Thema zum Schwerpunkt. Mit Polypharmazie und Übermedikation stehen schwerwiegende Gesundheitsrisiken in Verbindung. Die Tatsache, dass die Zahl der Anzeigen unerwünschter Medikamentenwirkungen bei der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft deutlich zunimmt zeigt, dass sich das Problem zunehmend verschärft. So stieg die Zahl der Meldungen im Zeitraum von 2004 bis 2016 von 2.200 auf 4.000.
Die hkk Krankenkasse hat vor diesem Hintergrund Dr. Bernard Braun vom Bremer Institut für Arbeitsschutz und Gesundheitsförderung (BIAG) mit einer erneuten Untersuchung beauftragt. Dabei standen folgende Fragen im Vordergrund: Wie viele der hkk-Versicherten werden polypharmazeutisch behandelt? Welche Patienten sind überwiegend betroffen? Welchen Risiken sind die Betroffenen ausgesetzt und was kann getan werden, um diese zu verringern und unnötige Medikamenteneinnahmen zu vermeiden?
Ältere besonders stark betroffen
Polypharmazie ist altersabhängig: Insgesamt waren 35 Prozent aller hkk-Versicherten, denen 2015 Arzneimittel verschrieben wurden, betroffen. In der Altersgruppe der 65 Jahre und Älteren war der Anteil deutlich höher (61,5 Prozent). Da die Verordnungsdaten der gesetzlichen Krankenkassen keine frei verkäuflichen Arzneimittel beinhalten, ist davon auszugehen, dass der Anteil noch höher wäre, wenn diese berücksichtigt würden.
Alter und potenziell inadäquate Medikation (PIM)
Die sogenannte PRISCUS-Liste soll die Arzneimitteltherapie von älteren Patienten sicherer machen, indem sie hilft, möglicherweise ungeeignete Medikamente, Wechsel- und Nebenwirkungen zu vermeiden. Dennoch erhielten 18,6Prozent der hkk-Versicherten ab 65 Jahre Medikamente, die demnach potenziell inadäquat sind. ?Bei der PRISCUS-Liste handelt es sich zwar nicht um eine ?Verbotsliste? im engeren Sinne, sie umfasst aber relevante Informationen zum Risiko einzelner Wirkstoffe gerade für ältere Menschen?, sagt Studienleiter Dr. Braun. Bei den am häufigsten verordneten Medikamenten handele es sich um hoch wirksame, beruhigende sowie schlaffördernde oder stimmungsaufhellende Mittel. Bei Dauereinnahme einiger dieser Arzneimittel drohten Beeinträchtigungen der Lebensqualität und Abhängigkeit. Vielen Patienten könnte beispielsweise mit natürlichen Mitteln wirksam und nebenwirkungsärmer geholfen werden.
Mehr Krankheiten, mehr Medikamente
Patienten mit mehreren Krankheiten (Multimorbidität) werden erwartungsgemäß besonders häufig polypharmazeutisch behandelt. Im Jahr 2015 wurden bei 17,6 Prozent aller hkk-Versicherten 20 und mehr unterschiedliche Krankheitsdiagnosen festgestellt. Dabei handelt es sich nicht immer um unterschiedliche Erkrankungen, sondern häufig um unterschiedliche Schweregrade und Komplikationen, die im Zeitverlauf einer Erkrankung auftreten. Fast drei Viertel (73,3 Prozent) davon bekamen fünf und mehr Arzneimittel verordnet. Dies ist, so Dr. Christoph Vauth (Leiter des hkk-Versorgungsmanagements) problematisch: ?Die Sicherheit der Arzneimitteltherapie spielt insbesondere bei der Behandlung von multimorbiden Patientinnen und Patienten, deren Erkrankungen weiter fortschreiten, noch immer eine untergeordnete Rolle.? Dies müsse sich dringend ändern, so Vauth: ?Es geht nicht nur um die Anzahl der Medikamente. Vielmehr muss für Arzt und Patient Transparenz über die Vielzahl der unterschiedlichen Medikamente geschaffen werden, damit unerwünschte Wechselwirkungen vermieden werden können. Der neue Medikationsplan, den Patienten von ihren Ärzten erhalten können, ist aber nur ein erster wichtiger Meilenstein.?
Fehlendes Problembewusstsein bei Patienten
Laut dem Gesundheitsmonitor der Bertelsmann-Stiftung von 2011 sind den meisten Polypharmazie-Patienten die Gefahren und Risiken einer Multimedikation nicht bewusst. Demnach sind nur 21 Prozent der Meinung, dass Ärzte zu oft Arzneimittel verordnen ? bei älteren Betroffenen waren es noch weniger. 59 Prozent hielten es sogar für überflüssig, wenn der Arzt sich bemüht, Arzneimittel zu vermeiden. 72 Prozent der Patienten glauben zudem, dass alle ihre Ärzte einen genauen Überblick darüber haben, welche Medikamente die anderen Ärzte verschrieben haben. Dies ist jedoch normalerweise nicht der Fall.
Verbesserungen nur durch mehrere Maßnahmen möglich
Patienten, die mindestens drei verordnete Medikamente über einen Zeitraum von mindestens 28 Tagen gleichzeitig nehmen, haben seit 1. Oktober 2016 Anspruch auf einen sogenannten bundeseinheitlichen Medikationsplan, den sie bei ihrem Hausarzt erhalten. Der Plan, der seit kurzem in der Praxissoftware des Arztes abgebildet ist, soll sowohl sämtliche verschreibungspflichtige Arzneimittel als auch Selbstmedikation dokumentieren. Dazu werden vom Arzt unter anderem der Wirkstoff, die Dosierung, der Einnahmegrund sowie sonstige Hinweise zur Einnahme protokolliert. ?Diese Maßnahme ist ein sinnvoller Schritt zu mehr Transparenz bei der Medikamentenverordnung. Polypharmazie entsteht vielfach aus der verbreiteten Vorstellung, dass jede Krankheit gleichwertig und gleichzeitig mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln behandelt werden muss?,sagt Braun. Anstatt dass jeder Arztkontakt ? auch durch die Erwartungshaltung des Patienten ? mit einer weiteren Medikamentenverschreibung abgeschlossen wird, sollten alle Vor- und Nachteile einer Verordnung abgewogen und die Entscheidung über die Verschreibung anhand einer angemessenen Risikokommunikation mit dem Patienten getroffen werden.
Der Nachweis über den Nutzen des Medikationsplans, seiner Vollständigkeit sowie Korrektheit und damit des erhofften Nutzens im Arzneimittelalltag steht aber noch aus. Eine weitere Studie der hkk soll dazu im Laufe des Jahres 2017 erste Erkenntnisse liefern. Vauth: ?Selbst wenn der Medikationsplan erfolgreich sein wird, muss er um weitere Maßnahmen ergänzt werden.?
Weiterhin können folgende Maßnahmen zu mehr Arzneimitteltherapiesicherheit beitragen:
* Medizinische Leitlinien zur Behandlung multimorbider Patienten. Hinzukommen sollten außerdem Leitlinien über die Nichtverordnung bestimmter Arzneimittel bei Polypharmazie, wie sie z.B. in der PRISCUS-Liste festgehalten sind.
* Diese Leitlinien sollten den Ärzten zur Verfügung gestellt werden und fester Bestandteil von Fortbildungen werden, damit sie verlässlich im Versorgungsalltag ankommen.
* Ärzte sollten Verordnungen ohne Leitlinienabsicherung regelmäßig prüfen und das Verordnungsgeschehen mit dem von Fachkollegen vergleichen (z.B. in speziellen ärztlichen Qualitätszirkeln zum Thema Polypharmazie).
* Ärzte sollten entweder ihre eigenen Dokumentationssysteme über Verordnungen nutzen, um Transparenz über ihr Polypharmaziegeschehen zu gewinnen oder Krankenkassen sollten ihnen entsprechende Übersichten im Vergleich zu allen regionalen Ärzten zur Verfügung stellen.
* Hausärzte sollten für Polypharmazie-Patienten ausreichend Zeit aufbringen, um so Anzahl und Art von Arzneimitteln auf das notwendige Maß zu reduzieren und Wechselwirkungen zu vermeiden.
* Pharmazeutische Beratung durch die Krankenkassen auf Basis der Patientenquittung über alle verschriebenen Medikamente.
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