fit und munter - Kongress FreierÄrzte: Kostenerstattung könnte Kassentrickserei mit Diagnosen verhindern

fit und munter

Kongress FreierÄrzte: Kostenerstattung könnte Kassentrickserei mit Diagnosen verhindern


Auf dem Kongress Freier Ärzte am Samstag in Berlin
stand ein heikles Thema ganz oben auf dem Programm: "Geld für
Diagnosen". Einig war sich das Podium darin, dass der
morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) mit
Geldumverteilung zwischen den Krankenkassen anhand von Diagnosen
große Gefahren berge. "Es ist klar, dass dies zu Fehlanreizen,
Regressproblemen und Druck der Kassen auf die Ärzte führt",
erläuterte Dr. Silke Lüder, Vizevorsitzende der Freien Ärzteschaft
(FÄ). Das System des Risikostrukturausgleichs müsse massiv verändert
werden - ebenso wie das Honorarsystem. Mit einer transparenten
Kostenerstattung wäre es gar nicht möglich, an Diagnosen
herumzutricksen. "Gute Medizin", sagte Lüder, "gibt es nur mit
Therapiefreiheit, ärztlicher Unabhängigkeit, Schweigepflicht und
Schweigerecht. Vertrauen ist die Grundlage unserer Arbeit mit den
Patienten."

Dr. Thomas Kriedel, Vorstand der Kassenärztlichen
Bundesvereinigung, hält die Risikoverteilung im System der
Gesetzlichen Krankenversicherung für richtig. "Der Morbi-RSA muss
aber auch auf die ärztliche Vergütung durchschlagen", sagte Kriedel.
Aus Sicht von Jürgen Hohnl, Geschäftsführer des IKK e. V., besteht im
Morbi-RSA ein Zielkonflikt zwischen der Vermeidung von
Risikoselektion und der Bewahrung von Präventionsanreizen.
"Investitionen zur Erhaltung der Gesundheit ihrer Versicherten lohnen
sich aus Kassensicht immer weniger", erläuterte Hohnl. Statt
Präventionsanreize setze der Morbi-RSA Kodieranreize.

Professor Paul Unschuld, Autor des Buches "Ware Gesundheit",
erinnerte daran, dass die Krankenkassen historisch gesehen als bloße
Mittler zwischen Zahler und Dienstleister im Gesundheitssystem
gedacht waren - nicht als eigene Player im System mit eigenen
finanziellen Interessen. "Es geht offensichtlich darum, mit den
richtigen Krankheitsbildern und Diagnosen Gewinn zu machen", beklagte
der Medizinhistoriker.

"Jeden Patienten unabhängig behandeln" - Auslaufmodell
Bürgerversicherung

"Warum nicht Privatversicherung für alle?", lautete die große
Frage im zweiten Teil der Veranstaltung. FÄ-Vorsitzender Wieland
Dietrich machte die Vorteile bei der Arbeit mit Privatpatienten und
Selbstzahlern deutlich: Es gebe einen Behandlungsvertrag, der die
Honorierung nach der Gebührenordnung für Ärzte regele, und eigentlich
nur ein Formular, das Privatrezept. "Keine Budgets - zumindest bisher
-, keine Regresse für Leistungen, Medikamente, verordnete
Hilfsmittel, Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen oder
Klinikeinweisungen, keine Rückforderungen, Bedarfsplanung und
Zwei-Minuten-Medizin", erläuterte der FÄ-Chef. "Wir erwarten von der
Politik Rahmenbedingungen, die es Ärzten ermöglichen, jeden Patienten
unabhängig, nach bestem Wissen und Gewissen und nach seinem
Qualitätsanspruch zu behandeln."

Professor Gert G. Wagner, Mitglied des Sachverständigenrates für
Verbraucherfragen, sprach die Rationierung im GKV-System an: "Viele
Behandlungen der modernen Medizin sind so teuer geworden, dass es
ohne Rationierung gar nicht mehr funktioniert." Wer heute ein
menschenwürdiges Gesundheitssystem umsetzen wolle, komme um
Rationierung nicht herum. Wieland Dietrich stellte dazu fest, dass
Ärzte keine Rationierungsbüttel der Politik seien. "Rationierung kann
nicht auf dem Rücken des Arzt-Patienten-Verhältnisses ausgetragen
werden. Über Rationierung muss ein öffentlicher Diskurs geführt
werden - dem verweigert sich die Politik aber in unerträglicher
Weise."

Für Ärzte hierzulande ist die Schweiz nach wie vor ein beliebter
Arbeitsort. Felix Schneuwly, Vorstand der Schweizerischen Public
Affairs Gesellschaft, berichtete über die Selbstbeteiligung der
Versicherten im Nachbarland. Schränke ein Patient mit einem
alternativen Versicherungsmodell die Wahl von medizinischen
Leistungserbringern freiwillig ein, bekomme er dafür einen Rabatt auf
die Kopfprämie. In Deutschland dagegen "ist die Kopfpauschale
politisch tot", konstatierte Dr. Timm Genett, Geschäftsführer des
Verbandes der Privaten Krankenversicherungen, und schwenkte auf die
"Schwester" der Kopfpauschale um, die Bürgerversicherung. "Wenn nicht
alle Signale trügen, ist die Bürgerversicherung gerade dabei, das
historische Erbe der Kopfpauschale anzutreten, nämlich als
politisches Auslaufmodell." Wer mit dem Gedanken einer
Bürgerversicherung spiele, weil er einer angeblichen
Zwei-Klassen-Medizin entgegenwirken wolle, habe die Mechanismen nicht
verstanden: "Eine Zwei-Klassen-Medizin entsteht als Antwort auf
Rationierung." Eben das sei bei der Bürgerversicherung zu befürchten.

"Unsinn sicher durchgeführt, bleibt Unsinn"

Auch der Dauerbrenner Telematik-Infrastruktur mit der
elektronischen Gesundheitskarte stand auf dem Programm. FÄ-Vize Dr.
Silke Lüder zog ein ernüchterndes Fazit: "Das Kartensystem ist weder
sicher noch ausreichend getestet, die Industrie schafft es nicht, die
Konnektoren zur Verfügung zu stellen und die ursprünglich in Aussicht
gestellte Stand-alone-Lösung ist für die Praxen mit hohen Kosten
verbunden." Kritik am Datenschutz kam auch von padeluun, dem
Vorsitzenden des Datenschutzvereins Digitalcourage. Als Jurymitglied
der deutschen Big Brother Awards verlieh er 2015 dem Projekt der
elektronischen Gesundheitskarte und dem Bundesgesundheitsministerium
diesen Negativpreis und verlas am Samstag noch einmal unter großem
Applaus seine Laudatio zu diesem Anlass (http://ots.de/B9GBt).

Benno Herrmann, Leiter der Unternehmenskommunikation der
Betreibergesellschaft gematik, verteidigte das Projekt und die großen
Zeitverzögerungen: "Es dauert halt so lange, bis alles sicher ist."
Hermann verteidigte auch das Versichertenstammdatenmanagement in den
Praxen. "Es ist der erste Schritt zur Vernetzung überhaupt." Er ebne
den Weg für viele weitere Funktionen wie die elektronische
Patientenakte. Eine zentralisierte Totalvernetzung, die von FÄ-Vize
Lüder abgelehnt wurde: "Wo werden die Daten gespeichert? Wer hostet
die Akten? Wem nützt eine zentrale E-Akte? Eine zentrale
Patientenakte in der Cloud kann niemals wirklich geschützt werden."
Ziel solcher zentralen Patientenakten seien Rendite für IT- und
Gesundheitskonzerne und ein von Kostenträgern gesteuertes
Gesundheitswesen. Ärzte bräuchten eine dezentrale, gesicherte
elektronische Punkt-zu-Punkt-Kommunikation in der Medizin. Diese, so
Lüder, sei aber politisch gar nicht gewollt.

FÄ-Vorstand Dr. Axel Brunngraber erinnerte in Sachen Erprobung der
Karten daran, dass einst von großen 10.000er-Tests die Rede gewesen
sei. "Jetzt machen da rund 370 Personen mit - die Patienten drohen zu
Versuchskaninchen zu werden", warnte Brunngraber. Dazu komme, dass
Funktionen wie der Notfalldatensatz organisatorisch keinen Sinn
machten. Auch Hermanns Beteuerung, dass das System unter hohen
Sicherheitsanforderungen umgesetzt werde, stimmten den FÄ-Vorstand
nicht um: "Unsinn sicher durchgeführt, bleibt Unsinn."

Über die Freie Ärzteschaft e.V.

Die Freie Ärzteschaft e. V. (FÄ) ist ein Verband, der den
Arztberuf als freien Beruf vertritt. Er wurde 2004 gegründet und
zählt heute mehr als 2.000 Mitglieder: vorwiegend niedergelassene
Haus- und Fachärzte sowie verschiedene Ärztenetze. Vorsitzender des
Bundesverbandes ist Wieland Dietrich, Dermatologe in Essen. Ziel der
FÄ ist eine unabhängige Medizin, bei der Patient und Arzt im
Mittelpunkt stehen und die ärztliche Schweigepflicht gewahrt bleibt.



Pressekontakt:
Daniela Schmidt, Tel.: 0176 49963803, E-Mail:
presse@freie-aerzteschaft.de

V .i. S. d. P.: Wieland Dietrich, Freie Ärzteschaft e.V.,
Vorsitzender, Gervinusstraße 10, 45144 Essen, Tel.: 0201 68586090,
E-Mail: mail@freie-aerzteschaft.de, www.freie-aerzteschaft.de

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