Den Abschied von der "Geiz-ist-geil"-Mentalität im
Gesundheitswesen fordert der BPI-Vorstandsvorsitzende Martin Zentgraf
im Pharma Fakten-Interview. Die Politik müsse die moderaten
Steigerungen bei den Arzneimittelausgaben endlich als das begreifen,
was sie seien; nämlich als Investitionen in die
Gesundheitsversorgung. Der Bundesverband der Pharmazeutischen
Industrie hat fünf Kernforderungen für eine zukunftssichere
Gesundheitsversorgung formuliert. Es sind die Positionen des
Pharmaverbandes für die 19. Wahlperiode.
Fünf Kernforderungen, die aus Sicht des BPI ins Pflichtenheft der
kommenden Regierung gehören: Der Pharmaverband will die Versorgung
für alle Menschen verbessern, die Qualität des Pharmastandortes
sichern und die Liefersicherheit von Arzneimitteln erhalten, "Made in
Germany" fördern, Arbeitsplätze erhalten sowie die Digitalisierung im
Gesundheitswesen vorantreiben. Mit Sorge sieht der BPI die Tendenz,
aus Kostengründen Defizite in der Arzneimittelversorgung in Kauf zu
nehmen. Das, so Zentgraf, sei nicht nur einfallslos, sondern falsch.
Herr Zentgraf, wir haben eines der besten Gesundheitssysteme
weltweit. Was stört Sie?
Qualität von und rascher Zugang zu ärztlicher Versorgung, sowohl
ambulant als auch stationär, sind in der Tat vorbildlich im deutschen
Gesundheitssystem. Auch der meist unmittelbare Markteintritt von
Arzneimittelinnovationen nach Zulassung hebt das deutsche
Gesundheitswesen positiv von zahlreichen Nachbarländern ab. Noch.
Denn der Nutzen dieser Vorteile für den Patienten wird zunehmend
eingeschränkt durch Verordnungsrestriktionen oder fehlende
Verfügbarkeit, gerade bei Innovationen und durch Abnahme der
Angebotsvielfalt im Bereich der generischen Basistherapien. Das kann
man nicht sehenden Auges einfach passieren lassen.
Sehen Sie schon konkrete Beispiele, wo sich die Versorgung
verschlechtert hat?
Fakt ist, dass es beinahe regelhaft Marktaustritte als Folge der
nach früher Zusatznutzenbewertung gescheiterten Preisverhandlungen
bei chronischen Indikationen wie Epilepsie und Diabetes, gibt. Hier
stehen deutschen Patienten, die mit der generischen Basistherapie aus
medizinischen Gründen nicht auskommen, keine neuen Alternativen zur
Verfügung. Im Bereich der patentfreien Produkte kommt es gehäuft zu
Lieferschwierigkeiten bis hin zu Versorgungsengpässen, insbesondere
bei Antibiotika und Onkologika. Sie resultieren aus der tragischen
Trias von Rabattverträgen, Festbeträgen und abnehmender Zahl von
Anbietern.
Werden Innovationen also nicht ausreichend gewürdigt?
In offiziellen Statements, wie beispielsweise auch im
Abschlussbericht zum Pharmadialog, findet man immer wieder das klare
Bekenntnis zu Innovation im Sinne neuer, aber auch verbesserter,
weiterentwickelter bewährter Arzneimittel. Diese Würdigung ist jedoch
ein reines Lippenbekenntnis. Die Zukunft sieht nämlich so aus: Ein zu
etablierendes Arzneimittelinformationssystem wird - wenn es nach dem
Willen der GKV geht - zur Verordnungseinschränkung bei Arzneimitteln
ohne oder mit gemischtem Nutzen in der frühen Nutzenbewertung führen.
Damit wird die zwischen Arzt und Patient individuell entschiedene
bestmögliche Therapie ausgeschlossen. Und schon jetzt finden
Innovationen durch verbesserte Darreichungsformen kaum noch statt, da
das erweiterte Preismoratorium, Festbeträge und Rabattverträge ihnen
jegliche wirtschaftliche Grundlage entzieht. Ganz abgesehen davon,
dass manch ein Politiker eine Innovation wie Tablette statt Spritze
für "ein Luxusproblem" der Patienten hält. Das empfinde ich als
diskreditierend. Wir müssen weg von der einseitigen
Kostenbetrachtung, weg von der Geiz-ist-geil-Mentalität. Und die
Politik muss moderate Steigerungen bei den Arzneimittelausgaben
endlich als das begreifen, was sie sind; nämlich eine Investition in
die Gesundheitsversorgung.
Das AMNOG - die frühe Nutzenbewertung neuer Arzneimittel - wird
gerne als "lernendes System" bezeichnet. Und in der Tat gab es schon
einige Reformen - in der Politik war schon die Rede vom AMNOG 2.0.
Wie bewerten Sie das? Lernt das AMNOG das Richtige?
Das AMNOG lebt nach der heuristischen Methode "Trial and Error".
Und in der Tat hat man Irrtümer in dem Gesetz erkannt und im unlängst
verabschiedeten Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetz versucht zu
beheben. Das Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetz AMVSG als eines
dieser Korrekturversuche sieht eine flexiblere Berücksichtigung des
Referenzpreises des Vergleichsproduktes sowie explizit die
Ermöglichung von Preismengenvereinbarungen zwischen Kassen und
pharmazeutischen Unternehmern bei Arzneimitteln ohne frühen
Zusatznutzen vor. Dadurch soll es möglich werden, einen im
europäischen Umfeld auskömmlichen und gleichzeitig die Kasse nicht
überfordernden Preis zu vereinbaren und die bisher fast regelhaften
Marktaustritte bei Indikationen wie etwa Epilepsie und Diabetes zu
verhindern. Gleichzeitig ist auch die Forderung und Förderung der
verbesserten Information der Ärzte zu Arzneimitteln zu begrüßen. Die
hierzu vorgesehene Verordnung des Bundesministeriums für Gesundheit
wird am Ende darüber entscheiden, ob das geplante
Arzneimittelinformationssystem zum Wohle des Patienten zum
gezielteren Einsatz von Innovationen führt, indem neben den
Ergebnissen der frühen Nutzenbewertung auch weitere relevante
Informationen, wie beispielsweise Leitlinien, eingebunden werden.
Vor dem Hintergrund der aktuellen Mischpreisdiskussion und den
Forderungen des GKV-Spitzenverbandes befürchte ich jedoch ein knappes
Arzneimittelinformationssystem mit Verordnungseinschränkungen. Und
wenn das der Fall ist, ist eine Methode, die bewusst auch die
Möglichkeit von Fehlschlägen in Kauf nimmt, nicht die richtige.
Das AMNOG ist eine Fachdiskussion - in der Öffentlichkeit findet
die Debatte nicht statt. Warum sollte diese Diskussion die Bürger
Ihrer Meinung nach dennoch interessieren?
Das AMNOG und seine Folgen gehen jeden Bürger etwas an. Weil es
sich nämlich zusehends von einem Instrument zur Verhandlung über
Arzneimittelpreise zu einem Werkzeug entwickelt, das darüber
entscheidet, ob uns als Patienten ein bestimmtes Arzneimittel
verordnet werden darf. Ich sehe die Tendenz, aus Kostengründen
Defizite in der Arzneimittelversorgung in Kauf zu nehmen. Das ist
nicht nur einfallslos, sondern falsch. Es wird dazu führen, dass,
anders als in der Vergangenheit, Patienten in Deutschland von
neuartigen Therapien nicht als Erste, sondern später oder gar nicht
profitieren. Für jeden Einzelnen steht hier viel auf dem Spiel.
In Sachen Digitalisierung gilt das deutsche Gesundheitswesen als
rückständig. Ein Grund wird die Sorge der Menschen um die Sicherheit
ihrer Daten sein. Der BPI hingegen sieht hier "immense Chancen". Was
meinen Sie damit?
Das deutsche Gesundheitswesen strotzt bereits heute geradezu vor
Daten. Deutschland ist einer der wichtigsten Standorte für klinische
Arzneimittelforschung. Der Zugang zur Gesundheitsversorgung ist
flächendeckend, rasch, sicher und gut dokumentiert. Viele Patienten
tragen selbst über Gesundheits-Apps immer mehr Daten zu ihrem
Gesundheits- und Allgemeinzustand bei. Wie allerdings bereits die
Diskussion um die Gesundheitskarte seit mehr als einer Dekade zeigt,
existieren all diese Daten als Dateninseln. An ihrer Vernetzung und
der Nutzung für Versorgungsforschungsprojekte und
Produktverbesserungen - selbstverständlich unter Gewährleistung von
Privatsphäre und Datenschutz - muss dringend gearbeitet werden.
Insbesondere die anonymisierten Daten der Krankenkassen können hier
einen entscheidenden Beitrag leisten, da sie noch am ehesten eine
Gesamtbetrachtung des jeweiligen Krankheitsbildes erlauben. Der
Schatz muss für die Patienten geborgen werden. Und zwar bevor
"Piraten" sich dieser zu eigen machen.
Weiterführende Links:
http://www.bpi.de
https://www.pharma-fakten.de/glossar/schlagwort/amnog/
http://ots.de/QfDjv
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