Herr Dr. Dahm, wie kommt man als Facharzt für Psychiatrie dazu, Botox™ bei Menschen mit seelischen Störungen einzusetzen?
Zunächst einmal muss man sagen, dass Botox™ der Handelsname eines Medikaments ist, welches ein Eiweiß enthält, das von dem Bakterium Clostridium botulinum gebildet wird, das so genannte Botulinum (BTX). Vor einigen Jahren fiel mir in einem meiner vielen medizinischen Newsletter ein Beitrag auf, worin es um den Einsatz von Botulinum bei Depressionen ging. Da habe ich zunächst an einen Scherz gedacht.
Sie haben die Sache dennoch verfolgt?
Nun ja, der Beitrag stand zumindest in der Onlineausgabe eines bekannten deutschen Print-Magazins. Ich habe dann die Suchmaschinen bemüht und fand weitere Artikel zu diesem Thema. Obwohl ich meinen Beruf nun bereits seit über 20 Jahren ausübe und mich regelmäßig fortbilde, war mir dieses Thema vorher nie begegnet.
Seit wann behandeln Sie Patienten mit dieser Methode?
Als Facharzt für Psychiatrie lernt man den Umgang mit diesem Medikament normalerweise nicht. Unsere neurologischen Kollegen nutzen Botulinum häufig, um Krämpfe der Augenlider, der Halsmuskulatur oder eine Migräne zu behandeln. Ich musste mich erst einmal schlau machen, wo ich die Anwendung des Botulinum im Gesicht überhaupt lernen konnte. Dabei stieß ich auf die Website der DGPT. Diese Fachgesellschaft, die eigentlich von Dermatologen gegründet wurde, hat es sich zur Aufgabe gemacht, Standards für die Behandlung mit der Substanz in der Ästhetik zu etablieren und zu überwachen.
Setzen Sie Botulinum auch zur ästhetischen Behandlung ein?
Um eine Wirkung bei seelischen Störungen zu erreichen, müssen wir das Medikament in eine bestimmte Region in der Stirn einbringen. Dabei handelt es sich um die gleiche Region und Technik, die von den ästhetischen Dermatologen genutzt wird, um die sogenannten Glabella- oder Zornesfalten zu behandeln. Diese Technik lernt man bei den Neurologen nicht. Also meldete ich mich für ein Seminar bei der DGPT an. Da die Teilnehmerzahlen in den Seminaren bewusst klein gehalten werden, um allen Teilnehmern genügend Übungsmöglichkeiten zu bieten, musste ich fast ein Jahr lang auf die Ausbildung warten. Es dauerte dann ein weiteres halbes Jahr, bis ich so viel gelernt hatte, dass ich meinen ersten Patienten mit Botulinum behandeln konnte. Ich setze das Medikament fast ausschließlich für die Behandlung von seelischen Störungen ein. Wenn mich eine Patientin oder ein Patient bittet, auch eine ästhetische Behandlung vorzunehmen, wird dies gesondert vereinbart. Schließlich habe ich auch diese Behandlung gelernt und darüberhinaus noch die Anwendung von Hyaluronsäure-Fillern. Bei der Ausbildung hieß es „Alles oder Nichts“.
Welche seelischen Störungen können mit Botulinum behandelt werden?
Die bisherigen Studien zum Einsatz von Botulinum in der Psychiatrie haben sich überwiegend mit Angststörungen, Depressionen und der sogenannten Borderline-Störung mit selbstverletzendem Verhalten beschäftigt. Insgesamt sind die Studien- und die Patientenzahlen zu klein, um von einer generellen Wirksamkeit des Verfahrens zu sprechen. Allerdings sind die Erfolge derart ermutigend, dass ich es nicht verantworten kann, diese Behandlungsmöglichkeit meinen Patientinnen und Patienten vorzuenthalten. Die Behandlung ersetzt bei schwerwiegenden Krankheitsverläufen sicherlich nicht die medikamentöse Therapie, bei moderater Symptomatik stellt sie allerdings eine ernstzunehmende Behandlungsalternative dar.
Wie wirkt Botulinum bei seelischen Erkrankungen?
Der Wirkmechanismus ist noch nicht vollständig geklärt. Allerdings ist dies auch bei den medikamentösen Behandlungsmöglichkeiten, der Gesprächstherapie und auch der sog. Elektrokrampftherapie der Fall.
Dennoch gibt es gute und nachvollziehbare Erklärungsmodelle zur Wirksamkeit von Botulinum bei seelischen Störungen.
Da ist einmal die sogenannte „Facial–Feedback–Hypothese“. Wir wissen inzwischen, dass die Unfähigkeit, negative Gefühle mimisch auszudrücken zu einer Abschwächung der überschießenden Erregung im linken Mandelkern des Gehirns, dem Angst- und Erregungszentrum führt, welches bei Patienten mit seelischen Störungen in der Regel hyperaktiv ist. Also etwas überspitzt formuliert: „Wer nicht mehr besorgt dreinblicken kann, kann auch nicht mehr so empfinden“. Möglicherweise sind bei der Stabilisierung dieses Systems auch Transportvorgänge entlang der Nervenbahnen beteiligt. Verständlich ist darüberhinaus, dass Menschen mit einem entspannten Gesichtsausdruck bei ihrem Gegenüber eher positive Gefühle wachrufen. Diesen Menschen wird man auch eher freundlich und positiv begegnen, was wiederum umgekehrt dazu beiträgt, deren Stimmung zu heben und Angst abzubauen. Ganz zuletzt spielt natürlich auch die verbesserte Selbstwahrnehmung eine Rolle, wobei die Behandlung auch bei Menschen anschlägt, die keinerlei Falten in dieser Region im Gesicht haben.
Welche Nebenwirkungen gibt es denn bei der Behandlung?
Jedes Medikament, aber auch nahezu jede Substanz, die wir in unseren Körper aufnehmen, kann zu unerwünschten Wirkungen führen. 1980 wurde Botulinum erstmals gegen Schielen eingesetzt und 1992 erschien die erste Veröffentlichung zum Einsatz von Botulinum zur Faltenbehandlung. Wir haben jetzt also 25 Jahre Erfahrung in der ästhetischen Anwendung. Ich erwähne das deswegen, da im Bereich der Ästhetik und damit auch der Psychiatrie in der Regel deutlich niedrigere Dosierungen eingesetzt werden als in der Behandlung neurologischer Erkrankungen. Insofern haben wir einen zusätzlichen Sicherheitsfaktor. Langzeitnebenwirkungen bei Behandlungen, die in niedrigen Dosisbereichen erfolgen, wurden nicht systematisch berichtet.
Prinzipiell können allerdings unerwünschte Wirkungen auftreten durch eine falsche Injektionstechnik oder unvorhersehbare anatomische Besonderheiten. In äußerst seltenen Fällen können Menschen auch gegen den Arzneistoff allergisch sein, wobei die verabreichten Dosierungen jedoch so niedrig sind, dass diese Gefahr dem Grunde nach fast ausgeschlossen ist. Man darf das Medikament nicht anwenden bei Menschen, die an einer krankhaften Muskelschwäche leiden. Alle anderen Anwendungsbeschränkungen sind lediglich Empfehlungen. Insofern gibt uns das Medikament eine sehr sichere Behandlungsmöglichkeit. Der Vorteil gegenüber anderen Medikamenten ist, dass es – soweit wir bisher wissen – nicht in den Gesamtorganismus aufgenommen wird.
Wie sind die Erfolgsaussichten?
Im ersten Jahr habe ich in meiner Praxis etwa 30 Patienten mit dieser Methode behandelt. Bei mehr als 80 % hat sich eine Besserung der Symptomatik eingestellt. Vor allem zeigten sich bei den Behandelten eine stabilere Gefühlslage und deutlich weniger Ängste. Besonders gut spricht die Behandlung bei allen Krankheitsbildern an, welche von einer Übererregbarkeit und Ängstlichkeit gekennzeichnet sind. Insofern verwundert es auch nicht, dass bei Menschen mit einer emotional–instabilen-Persönlichkeitsstörung, der sogenannten Borderline-Störung, die Symptome deutlich seltener und milder werden. In einem Fall verschwand das bis dahin regelmäßige selbstverletzende Verhalten zeitweise völlig.
Wie lange hält der Behandlungserfolg an?
Die Wirkung auf die seelischen Symptome unterscheidet sich von der entspannenden Wirkung auf die Muskulatur. Letztere beginnt nach etwa 2-4 Tagen und erreicht ihre volle Ausprägung nach etwa 8-12 Tagen. Sie hält etwa 2-4 Monate nach Injektion an und wird allmählich schwächer. Die eigentliche Wirkung auf die psychischen Symptome setzt nach 2-4 Wochen ein und hält dann allerdings auch 3-6 Monate lang an. Es gibt Hinweise auf eine verlängerte Wirkdauer bei wiederholter Anwendung.
Wie läuft eine solche Behandlung ab?
Am Anfang steht ein ausführliches ärztliches Anamnese- und Beratungsgespräch. Dabei mache ich mir von der zu behandelnden Person, der zugrundeliegenden Erkrankung und der im Vordergrund stehenden Symptomatik ein genaues Bild. Danach entscheide ich, ob eine Behandlung mit Botulinum überhaupt erfolgversprechend sein kann, oder vielleicht sogar kontraindiziert ist. Nach ausführlicher Aufklärung kann dann die Injektion erfolgen. Dabei werden zunächst das zu behandelnde Areal mit einem Desinfektionsmittel ohne Alkohol gesäubert, die Injektionspunkte angezeichnet und das Medikament dann mittels einer ultradünnen Kanüle in die Behandlungsstellen eingebracht. Manchmal treten winzige Blutströpfchen aus, die wir abtupfen. Rötungen oder kleine Erhebungen an den Einstichstellen verschwinden normalerweise innerhalb weniger Minuten. Um die Wirksamkeit zu verbessern, bitten wir die Patienten etwa 10 Minuten lang Grimassen zu schneiden, danach kann man normalerweise die Praxis verlassen und seiner gewohnten Beschäftigung nachgehen.
Zahlen die Krankenkassen die Behandlung?
Diese Form der Behandlung ist bislang für die seelischen Krankheitsbilder nicht zugelassen. Es findet also ein so genannter „Off-Label-Use“ statt. Die Kosten für solche Behandlungen werden von den gesetzlichen Krankenkassen nicht übernommen. Da für das Medikament in dieser Indikation keine Zulassung besteht, übernehmen in der Regel auch die privaten Kassen die Behandlungskosten nicht. Es handelt sich also um eine Privatleistung.
Was kostet die Behandlung?
Es ist schwer, hier eine pauschale Aussage zu treffen. Ein Fläschchen des Medikaments ist nur zur Anwendungen bei einem Patienten zugelassen, d.h. nicht verbrauchtes Material muss verworfen werden. Daraus resultiert ein entsprechend hoher Materialpreis. Je nach Beschaffenheit der anatomischen Gegebenheiten entsteht ein unterschiedlich hoher Behandlungsaufwand. Die Preise orientieren sich an den in der ästhetischen Medizin zu zahlenden Beträge und liegen für die Glabella-Region bei etwa 250-300 Euro. Andere Anwendungen können teurer, aber auch günstiger sein.
Welche weiteren Störungen behandeln Sie als Psychiater mit Botulinum?
Besonders häufig sehen wir in unserem Fach übermäßiges Zähneknirschen, den sog. Bruxismus. Viele Menschen tragen deswegen schon eine Beißschiene. Dieses Phänomen tritt häufig bei langanhaltendem erhöhtem psychosozialen Stress auf und kann zu Problemen im Kieferbereich oder auch zu chronischen Kopfschmerzen führen. Wir entspannen den Kaumuskel mittels Botulinum so weit, dass das Knirschen deutlich weniger wird, die Kaufunktion aber erhalten bleibt.
Ein weiteres Einsatzgebiet des Botulinum stellt das übermäßige Schwitzen in der Achselregion dar. Viele Patienten leiden darunter sehr, erleben es gerade im Sommer als stigmatisierend. Durch die Injektion in die oberflächlichen Hautschichten der Achselhöhle lässt sich die Schweißsekretion monatelang deutlich vermindern.
Vielen Dank für die ausführlichen Informationen!