Die Freie Ärzteschaft (FÄ) zieht ein positives
Fazit ihres diesjährigen Bundeskongresses, der am Samstag in Berlin
stattgefunden hat. In drei Sessions ist über verschiedene Aspekte der
aktuellen Gesundheitspolitik diskutiert worden, etwa über
Industrialisierung und Kommerzialisierung in der Medizin sowie
Therapiefreiheit und Datenschutz im Zeitalter der Digitalisierung.
FÄ-Vorsitzender Wieland Dietrich sagte in seinem Vortrag: "Es geht
nicht mehr nur um die Frage der Anstellung vormals selbstständiger
Ärzte in Medizinischen Versorgungszentren, die dann
Kapitalgesellschaften gehören, oder um monetäre Fehlanreize und
Diktate von Verwaltungsdirektoren gegenüber Klinikärzten - ein
Konflikt, der inzwischen auch durch unser maßgebliches Zutun in der
Öffentlichkeit angekommen ist." Vielmehr gehe die Entwicklung weiter.
Infolge jahrelanger Budgetierung könnten Vertragsärzte viele
Leistungen nicht mehr ordentlich, mitunter auch gar nicht mehr "auf
Kasse" anbieten, weil sie nicht kostendeckend bezahlt werden. "Der
Staat und mit ihm die Kassenärztlichen Vereinigungen reden zwar
vordergründig von Versorgungsqualität, tatsächlich bricht eine
zuwendungsorientierte, fachlich gute und individuelle Medizin aber
immer mehr weg, weil sie für Centbeträge nicht mehr zu erbringen
ist", so Dietrich.
Dr. Silke Lüder, stellvertretende Bundesvorsitzende der Freien
Ärzteschaft, erklärte: "Die staatliche Regelungswut findet im
Vordergrund statt. Im Hintergrund gibt es immer relevanter werdende
Konzernstrukturen, die aus dem System mit dem Geld der gesetzlich
Versicherten Renditen für international agierende Konzerne
erwirtschaften." Alle Gesundheitsreformen hätten dazu geführt, dass
die Schere zwischen der Finanzierung des ambulanten und stationären
Systems immer weiter auseinandergegangen ist. "Zusätzlich profitieren
die bekannten Konzerne des digitalen Kapitalismus von dem Hype um Big
Data, Telemedizin, Fernbehandlung und Totalvernetzung, an dem sich
leider auch genügend Vertreter unserer Profession als Stichwortgeber
beteiligen."
Klagen gegen TI-Zwangsanschluss und Honorarabzug
Verlierer dieser Entwicklung seien zum einen die selbstständigen
Arztpraxen. "Sie werden zerrieben. Aber nicht nur sie, sondern vor
allem die Kranken in unserem Land, denen in absehbarer Zeit ihre
vertrauten Haus- und Fachärzte vor Ort an vielen Stellen fehlen
werden." Zur elektronischen Gesundheitskarte und der geplanten wie
umstrittenen Anbindung der Arztpraxen an die Telematik-Infrastruktur
(TI) sagte Lüder: "Wir, die Praxisärzte, sind immer bereit gewesen,
uns einzubringen. Aber die Betroffenen der IT-Vernetzung neuen
Systems wurden nie gefragt und die Vertreter der Bundesärztekammer in
der Gematik hätten die Ablehnungsbeschlüsse der Ärzteschaft nicht
umgesetzt. Die FÄ-Vizevorsitzende forderte in Berlin abermals eine
sichere dezentrale Kommunikation: "Das ist das, was wir brauchen."
Viele niedergelassene Ärzte würden derzeit nicht der Zwangsanbindung
an die TI folgen, und lieber den angedrohten Honorarabzug von 1
Prozent in Kauf nehmen. "Wir prüfen zudem Optionen für Klagen gegen
den Zwangsanschluss und den Honorarabzug", erläuterte Lüder.
Grundlegender Strategiewechsel nötig
Die Freie Ärzteschaft konnte für ihren Kongress auch in diesem
Jahr namhafte Referenten gewinnen, darunter den Berliner
Ärztekammerpräsidenten Dr. Günther Jonitz. Er beklagte eine falsche
politische Strategie. Auf mehr technisch mögliche Medizin und die
damit einhergehende Explosion der Leistungen reagiere die Politik
seit Jahren rein symptomatisch mit Kosten- und Mengenbegrenzungen.
Zudem würden immer mehr Gesundheitsökonomen die Führung im
Gesundheitswesen übernehmen. Und: Chefärzte bekämen heute kein Gehalt
mehr, sondern Schweigegeld. Laut Jonitz braucht es eine Optimierung
der Versorgung, anstatt einer weiteren Dezimierung von Strukturen und
Kosten. Dazu sei "ein grundlegender Strategiewechsel in der
Gesundheitspolitik nötig."
FÄ-Vize Dr. Axel Brunngraber thematisierte in seinem Beitrag, dass
Big Data nicht ohne Weiteres geeignet sei, neue Erkenntnisse zu
generieren. Das klassische Wissenschaftskonzept mit Studien und
Erkenntnisgewinn über Versuchsanordnungen und der Suche nach
Kausalitäten werde dadurch bedroht, dass Big Data lediglich
Korrelationen erstelle, die aber unsinnig sein könnten. Auch sei die
Qualität der Datenbasis von großer Bedeutung.
"Ich habe selten so klare Worte gehört wie hier"
Prof. Heiner Fangerau vom Institut für Geschichte, Theorie und
Ethik der Medizin, am Universitätsklinikum Düsseldorf widmete sich in
seinem Vortrag den Chancen und Risiken der Digitalisierung im
Gesundheitswesen und nahm dabei eine "medizinethische Perspektive"
ein. Der demografische Wandel und steigende Kosten für Gesundheit
katalysierten seit einigen Jahren eine umfassende Technisierung der
Medizin. Digitalisierung, mobile Daten und Teleanwendungen böten in
der Medizin ungeheure Potenziale für Diagnostik, Therapie,
Prävention, Gesundheitsmanagement oder Pflege. "Die Digitalisierung
vereinfacht aber nicht nur Prozesse, sondern sie wirkt sich auch auf
individueller, institutioneller und struktureller Ebene modifizierend
auf Menschenbilder, Mensch-Technik-Interaktionen, menschliche
Beziehungs- und Verantwortungsgefüge sowie die mit ihnen verbundenen
moralischen Grundhaltungen aus." Fangerau konstatierte in Berlin:
"Ich habe selten so klare Worte gehört wie hier."
Professor Hannes Federrath, Präsident der Gesellschaft für
Informatik (GI) referierte über "Privacy by Design und Security by
Design für Arztpraxen?" Laut Federrath fordert die europäische
Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) für die heutigen Systeme
eingebauten Datenschutz und technische Vorkehrungen zum Schutz der
sensiblen personenbezogenen Daten. "Allerdings erfordern Technologien
wie Cloud Computing, Big Data und die Telematik-Infrastruktur neue
Risikoeinschätzungen." Zugleich eröffneten neue Nutzungs- und
Verknüpfungsmöglichkeiten wie Health Apps und KI-basierte
Datenanalyse Chancen für Endnutzer und Gesundheitsdienstleistungen.
"Techniken wie Verschlüsselung, Pseudonymisierung und Anonymisierung
sind zwar geeignete Schutztechniken, allerdings ist deren Integration
in existierende Systeme schwierig und erfordert die Sensibilität der
Systementwickler."
Können Daten vergessen werden? "Vergessen Sie''s, das geht nicht!"
Federrath betonte, dass der elektronischen Gesundheitskarte eine
"Appification" des Gesundheitswesens folgen würde. Während man sich
im Internet-Browser heute immer noch relativ gut davor schützen
könne, komplett gläsern zu werden, sei bei Apps auf mobilen
Endgeräten das Gegenteil der Fall: "In jeder App kann gesammelt und
für die Ewigkeit aufbewahrt werden." Der Informatiker kritisierte
hierbei auch das in der DSGVO formulierte "Recht auf
Vergessenwerden". Dieses suggeriere, dass man Daten jemals so aus
Computersystemen und -netzen beseitigen könne, dass sie auch wirklich
vergessen werden. "Vergessen Sie''s, das geht nicht!" Eine sichere
Datenlöschung sei weder erreichbar, geschweige denn überprüfbar.
FÄ-Vize Dr. Silke Lüder zog aus diesen Stellungnahmen der Experten
den Schluss, dass die Weiterführung des Projektes
Telematik-Infrastruktur völlig inakzeptabel sei.
Über die Freie Ärzteschaft e.V.
Die Freie Ärzteschaft e. V. (FÄ) ist ein Verband, der den
Arztberuf als freien Beruf vertritt. Er wurde 2004 gegründet und
zählt heute mehr als 2.000 Mitglieder: vorwiegend niedergelassene
Haus- und Fachärzte sowie verschiedene Ärztenetze. Vorsitzender des
Bundesverbandes ist Wieland Dietrich, Dermatologe in Essen. Ziel der
FÄ ist eine unabhängige Medizin, bei der Patient und Arzt im
Mittelpunkt stehen und die ärztliche Schweigepflicht gewahrt bleibt.
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V .i. S. d. P.: Wieland Dietrich, Freie Ärzteschaft e.V.,
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