Ein Schritt nach vorn und zwei zurück? Das 2017 in Kraft getretene
Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetz (HHVG) gilt politisch als
großer Wurf und Fortschritt zugunsten der Patienten.
Qualitätskriterien erhalten dadurch mehr Gewicht, gerade auch bei
Hilfsmitteln mit hohem Dienstleistungsanteil. Doch mit der Einführung
von Open-House-Verträgen missachten gesetzliche Krankenkassen den
Willen des Gesetzgebers. Ohne Mitspracherecht der Leistungserbringer
bestimmten sie dabei alle Bedingungen und berufen sich auf
EU-Vorschriften. Zu Unrecht, wie der Bundesinnungsverband für
Orthopädie-Technik (BIV-OT) betont. In Konsequenz werde so die
deutsche Gesetzgebung im Gesundheitswesen ausgehebelt. Das
Bundesversicherungsamt (BVA) und das Bundesgesundheitsministerium
bewerten Diktatverträge wie die Open-House-Verträge in der
Hilfsmittelversorgung ebenfalls als gesetzeswidrig.
"Mit dem HHVG werden Qualitätskriterien bei der Versorgung der
gesetzlich Versicherten mit Hilfsmitteln stärker einbezogen - ganz im
Sinne der Patientinnen und Patienten", unterstreicht BIV-OT Präsident
Klaus-Jürgen Lotz. "Doch nun scheint es, dass manche gesetzliche
Krankenkassen durch einseitig diktierte Open-House-Verträge die
Vorgabe zu mehr Qualität systematisch unterlaufen."
Für Vertragsabschlüsse zwischen gesetzlichen Krankenkassen und
Leistungserbringern für die Beschaffung von Hilfsmitteln sind laut §
127 im Sozialgesetzbuch (SGB) V drei Optionen definiert: Die Vergabe
per Ausschreibung nach Absatz 1, allerdings nicht für individuell
angefertigte Hilfsmittel oder Versorgungen mit hohem
Dienstleistungsanteil; der Verhandlungsvertrag mit
Beitrittsmöglichkeit für andere Leistungserbringer (Abs. 2) sowie im
Ausnahmefall die Vereinbarung im Einzelfall mit Kostenvoranschlag
(Abs. 3). "Mit Open-House-Modellen wollen manche Krankenkassen eine
weitere Möglichkeit festschreiben, die das Gesetz nicht vorsieht",
kritisiert Lotz.
Open House bedeutet: Die Krankenkasse legt alle Bedingungen fest
wie Preis, Lieferfristen oder Qualität. Änderungen sind nicht
zulässig. Mit den Verantwortlichen der der Patientenversorgung wird
nicht verhandelt. Während seiner Laufzeit steht der Vertrag allen
Unternehmen, welche die Voraussetzungen erfüllen bzw. akzeptieren,
jederzeit zum Beitritt offen - daher der Name. Im Arzneimittelbereich
ist dies bei Rabattverträgen zwischen Krankenkassen und
Pharmaunternehmen teils gängiges Vorgehen.
"Dies ist aber auf die Hilfsmittelversorgung nicht übertragbar",
betont Lotz. Aufgrund des meist gegebenen hohen
Dienstleistungsanteils sowie einer wohnortnahen Versorgung dürfe der
Einfluss auf Qualitätsaspekte sowie Preise nicht allein bei einem
Vertragspartner liegen. Bestimme nur eine Seite alle Modalitäten,
würden oft rein wirtschaftliche Interessen die Oberhand gewinnen.
"Die Leistungserbringer mit ihrer Expertise und Verantwortung für die
Patientenversorgung werden dann nicht mehr als Partner im
Gesundheitswesen anerkannt." Sie müssten den komplett einseitig
ausgestalteten Vertrag widerspruchslos unterschreiben oder seien von
der Hilfsmittelversorgung ausgeschlossen. Zudem würde eine solche
Praxis auch dazu führen, dass in dem hochkomplexen Hilfsmittelmarkt,
der bisher durch eine vertragspartnerschaftliche Innovationskraft
gekennzeichnet war, kein notwendiger Know- How Transfer in die
Versorgungsverträge hinein mehr stattfindet.
"Die Krankenkassen sehen ihr Vorgehen durch das angeblich
vorrangige Wettbewerbs- bzw. Vergaberecht der EU legitimiert und
qualifizieren damit das SGB V als für sie nicht zutreffend ab",
berichtet Lotz. Dabei berufen sie sich gemäß BIV-OT beispielsweise
auf einen Beschluss des Vergabesenats des Oberlandesgerichts (OLG)
Düsseldorf (Aktenzeichen VII-Verg 26/16) vom 21. Dezember 2016, wo zu
§ 127 SGB V unter anderem die Rechtsaussage (25a) getroffen wurde:
dieser habe vergaberechtlich unangewendet zu bleiben, verstoße also
gegen Vergaberecht, weil danach "die gesetzlichen Krankenkassen die
Durchführung eines geregelten Vergabeverfahrens von
Zweckmäßigkeitsüberlegungen, mithin von Ermessenserwägungen, abhängig
machen dürfen." Des Weiteren werde von den Krankenkassen ein Urteil
der Fünften Kammer des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zu
Arzneimittelrabattverträgen vom 2. Juni 2016 (C-410/14) angeführt.
Hierbei wurde festgestellt, dass ein Open-House-Vertrag "keinen
öffentlichen Auftrag" im Sinne des Vergaberechts darstellt und damit
nicht ausschreibungspflichtig ist.
Laut BIV-OT ist die rechtlich begründete Auffassung der
Krankenkassen hinsichtlich der Open-House-Verträge in der
Hilfsmittelversorgung falsch. "Unserer Meinung nach hat der EuGH
Verhandlungsverträge gerade nicht ausgeschlossen. Im Gegenteil, er
hat verschiedene Vertragsvarianten außerhalb des EU-Vergaberechts
bejaht", so Lotz. Außerdem sei in dem Urteil keine Rede davon, dass
bei Verträgen mit Beitrittsmöglichkeit für andere Leistungserbringer
einseitige Preisdiktate Voraussetzung wären. Mit Vorgaben, ob und
wann derartige Verträge im Gesundheitsbereich zulässig wären, habe
sich das Urteil gar nicht befasst. "Das SGB V gilt nach wie vor, auch
der Beschluss des OLG Düsseldorf ist hier nicht anzuwenden. Denn der
Gesetzgeber hat in den festgelegten Vertragsoptionen nach § 127 SGB V
seinen Willen eindeutig zum Ausdruck gebracht."
Nicht zuletzt bezeichnen ebenso das Bundesgesundheitsministerium
sowie die Aufsichtsbehörde BVA Open-House-Verträge als unzulässig. So
schrieb Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe am 2. Juli 2017 an
den BIV-OT-Präsidenten Lotz: "Der Abschluss von Open-House-Verträgen
ist den Krankenkassen verwehrt." Ein Gutachten der Wissenschaftlichen
Dienste des Deutschen Bundestages vom 26. Juni 2017 (Sachstand,
Aktenzeichen: WD 9 - 3000 - 025/17) kommt zu dem Schluss: "Die
Krankenkassen müssen den Leistungserbringern also die Möglichkeit
eröffnen, Vertragsverhandlungen zu führen." Weiterhin heißt es, dass
"der Abschluss von Hilfsmittelverträgen ohne Verhandlungsmöglichkeit
nach derzeitiger Rechtslage nicht zulässig ist, entspricht darüber
hinaus der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, dem Stand des
sozialrechtlichen Schrifttums und der vom Bundesversicherungsamt
vertretenen Rechtsauffassung." Zudem wird ausgeführt: "Der
Gesetzgeber hat für die Hilfsmittelverträge mit den verschiedenen
Vertragstypen des § 127 SGB V einen abschließenden - und für die
Krankenkassen rechtlich verbindlichen - Katalog möglicher
Versorgungsverträge festgelegt, außerhalb derer eine
Hilfsmittelbeschaffung durch die gesetzlichen Krankenkassen
ausscheidet."
Open-House-Verfahren seien "im Bereich der Hilfsmittelversorgung
nicht anwendbar", verdeutlichte desgleichen das BVA, welches die
Rechtsaufsicht über die meisten gesetzlichen Krankenkassen innehat.
Die Behörde hielt in ihrem Rundschreiben vom 20. Juli 2017 fest:
"Auch der jüngst ergangene Beschluss des OLG Düsseldorf (Beschluss
vom 21. Dezember 2016 - VII Verg 26/16) führt nicht zu einer anderen
Einschätzung. Diese Entscheidung kann nicht auf das Verfahren zum
Abschluss von Verträgen nach in § 127 Abs. 2 SGB V übertragen werden.
Das Bundesversicherungsamt sieht sich in seiner Auffassung durch den
Gesetzgeber bestätigt."
Zusätzlich hob das BVA die entscheidende Bedeutung einer
wohnortnahen Versorgung hervor, auf die es bei der Versorgung mit
Hilfsmitteln mit hohem Dienstleistungsanteil entscheidend ankäme.
Fazit des Amts: "Das Open-House-Verfahren als System eines
sukzessiven Vertragsbeitritts von Leistungserbringern wäre zudem
nicht geeignet, von Beginn an eine flächendeckende, wohnortnahe
Versorgung sicherzustellen."
Setzen sich Open-House-Modelle in der Hilfsmittelversorgung durch,
hätte dies ernste Konsequenzen: "Die gesamte deutsche Gesetzgebung im
Gesundheitswesen für den Hilfsmittelbereich würde ausgehebelt und auf
den Kopf gestellt. Genauso würde dadurch die Geltung des HHVG mit der
Betonung der Qualität in der Versorgung infrage gestellt",
konstatiert Lotz und weiß den BIV-OT damit auf einer Linie unter
anderem mit der Interessengemeinschaft Hilfsmittelversorgung (IGHV),
in der die führenden Branchenverbände und -vereinigungen
zusammenarbeiten. "Die Patientinnen und Patienten würden dem Schutz
durch deutsches Recht entzogen. Der Gesetzgeber muss dem Einhalt
gebieten."
Über den BIV-OT: Der Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik
(BIV-OT) vertritt als Spitzenverband des orthopädietechnischen
Handwerks etwa 2.500 Sanitätshäuser und orthopädietechnische
Werkstätten mit mehr als 40.000 Beschäftigten. Jährlich versorgen die
angeschlossenen Häuser mehr als 20 Millionen Patienten mit
Hilfsmitteln. Der BIV-OT steht in der Verantwortung des deutschen
Gesundheitswesens und engagiert sich für die Sicherung und
Weiterentwicklung der Qualität der Versorgungsformen.
Pressekontakt:
Kirsten Abel,
Pressesprecherin des Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik
Reinoldistr. 7-9, 44135 Dortmund, Telefon: 01715608125,
E-Mail: abel@biv-ot.org
Original-Content von: Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik, übermittelt durch news aktuell