Es ist im deutschen Gesundheitswesen ein absolutes Novum, dass
Wissenschaftler über eine Dekade forschen, Langzeiteffekte erkennen
und beschreiben können. Im Südwesten der Republik ist es in der
Hausarztzentrierten Versorgung (HZV) der AOK Baden-Württemberg und
ihrer ärztlichen Partner gelebte Realität. Die Ergebnisse der
Universitäten Frankfurt/Main und Heidelberg belegen: HZV-Teilnehmer
werden besser versorgt, und erstmals sind auch Hinweise auf
Überlebensvorteile erkennbar. Von der intensiveren Betreuung
profitieren vor allem chronisch Kranke, die mit 60 Prozent das Gros
der 1,6 Millionen freiwilligen HZV-Teilnehmer stellen. Laut
Forschungsergebnissen entfallen pro Jahr allein 1,2 Millionen
unkoordinierte Facharztkontakte. Herzpatienten bleiben jährlich rund
46.000 Krankenhaustage erspart. Diabetiker werden in sechs Jahren vor
ca. 4.000 schweren Komplikationen wie Amputationen oder
Schlaganfällen bewahrt. Weitere Versorgungsverbesserungen erwarten
die Vertragspartner durch nutzenbringende, digitale Strukturen, die
ab 2019 eingerichtet werden und sukzessive die knapp 5.000 HZV-Ärzte
mit rund 2.500 Ärzten und Psychotherapeuten in den angeschlossenen
Facharztverträgen in Baden-Württemberg untereinander digital
vernetzen.
Für Diabetiker wirken die geregelten HZV-Strukturen besonders
positiv, insbesondere wenn es sich um Folge- und Begleiterkrankungen
dreht: "Unsere Analysen zeigen sehr deutlich, dass bei HZV-Patienten
mit Diabetes mellitus deutlich weniger und zeitlich später
schwerwiegende diabetesbedingte Komplikationen auftreten. Konkret
kommen bei Diabetikern in der HZV Dialyse, Erblindung und
Amputationen sowie auch Herzinfarkte und Schlaganfälle seltener vor",
so Prof. Dr. Ferdinand Gerlach, Direktor des Instituts für
Allgemeinmedizin der Goethe-Universität Frankfurt/Main.
Ein sehr bemerkenswerter Effekt sei der signifikante
Überlebensvorteil zugunsten der HZV-Versicherten. "Wir können zwar,
durch die Evaluationsmethodik bedingt, noch nicht alle möglichen
Einflussfaktoren auf das Überleben von Patienten kontrollieren.
Dennoch zeigt sich bei Betrachtung des Fünfjahreszeitraums 2012 bis
2016, dass das Risiko zu versterben in der HZV geringer ist, als in
der Regelversorgung. Das zugrundeliegende statistische
Überlebenszeitmodell weist eine Zahl von knapp 1.700 vermiedenen
Todesfällen in der HZV aus", erklärt Prof. Dr. Joachim Szecsenyi,
Ärztlicher Direktor der Abteilung Allgemeinmedizin und
Versorgungsforschung des Universitätsklinikums Heidelberg. Den
Hauptgrund dafür, dass sich die Politik trotz aller positiver
Forschungsergebnisse bis heute in der Umsteuerung in Richtung mehr
Versorgungswettbewerb überhaupt nicht bewegt hat, sieht der
Vorstandschef der AOK Baden-Württemberg, Dr. Christopher Hermann, in
Kurzatmigkeit und fehlendem Mut der politischen Verantwortlichen:
"Die Politik hat sich seit Jahren fest in immer mehr Klein-Klein
eingerichtet und greift mit Gesetzen und Vorgaben wie jetzt wieder
mit dem TSVG noch tiefer in die Regulierungskiste. Das ist nicht
unsere Welt. Wir haben längst den schnellen, unkomplizierten
Arztzugang, die intensivere Betreuung, bessere Vergütung und die
klare Aufwertung der sprechenden Medizin am Netz." Investitionen von
618 Millionen Euro im Jahr 2017 in die Alternative Regelversorgung
seien laut AOK-Chef hervorragend angelegtes Geld. Die AOK
Baden-Württemberg hätte im gleichen Zeitraum in der Regelversorgung
glatte 50 Millionen Euro mehr ausgegeben - bei nachweisbar
schlechterer Versorgung der Versicherten. Hermann: "Und
selbstverständlich bleiben wir nicht stehen. Mit Nephrologie,
Pulmologie und HNO wird die Alternative Regelversorgung 2019 um
weitere Facharztgebiete erweitert, und die Vernetzung in Richtung
Krankenhausversorgung werden wir im nächsten Jahr im Bereich Knie-
und Hüft-OPs starten."
Für Dr. Berthold Dietsche, Vorsitzender des Hausärzteverbandes
Baden-Württemberg, liegt der Erfolg der letzten zehn Jahre vor allem
darin, dass "die HZV nachhaltig die richtigen Antworten auf
Kernprobleme der ärztlichen Selbstverwaltung gibt". Dazu zähle vor
allem eine leistungsgerechte Honorierung ohne Budgetierung, eine
einfache Abrechnung für die nur noch zwei Stunden, statt zwei Tage
benötigt werde und ein verbindliches Einschreibesystem. Dieses sei
die Voraussetzung für eine wirksame Versorgungssteuerung. Pro Jahr
2,1 Millionen mehr Hausarztkontakte und 1,2 Millionen weniger
unkoordinierte Facharztkontakte in der HZV im Vergleich zur
Regelversorgung zeigten, dass die Koordination funktioniert. Mit der
HZV sei es darüber hinaus gelungen, eine konsequente Verpflichtung
zur Fortbildung mit hausärztlichen Themen zu etablieren. Vier
spezielle Fortbildungen pro Jahr seien Pflicht. Aus Sicht von
Dietsche sei die HZV-Teilnahme außerdem ein entscheidender
Wettbewerbsvorteil bei der Nachfolgeplanung. Praxen mit einem hohen
Anteil an HZV-Patienten steigerten ihren Wert und seien grundsätzlich
attraktiver für den Ärztenachwuchs. Sie gäben einerseits
Planungssicherheit für Investitionen und laufende Kosten,
andererseits fördere die HZV Teamstrukturen und arbeitsteilige
Strukturen - Kriterien, die für junge Ärztinnen und Ärzte einen hohen
Stellenwert hätten.
Wichtig sei auch eine strukturierte und verbindliche Anbindung an
die Facharztebene, wie Dr. Norbert Smetak, stellvertretender
Vorsitzender von MEDI Baden-Württemberg und BNK-Bundesvorsitzender
unterstreicht: "In den Haus- und Facharztverträgen gibt es eindeutige
Regelungen bezüglich des Zeitrahmens, in dem ein Patient eine
Behandlung bekommen muss. Das ist deswegen möglich, weil in diesen
Verträgen, im Gegensatz zum Kollektivvertrag, jeder Behandlungsfall
bezahlt und nicht bei Überschreitung eines Budgets einfach gestrichen
und damit nicht bezahlt wird. Das macht nicht nur die
Terminservicestellen überflüssig, sondern der Patient kann sich
weiterhin an den Arzt seines Vertrauens wenden, statt
weitervermittelt zu werden."
Die HZV und die Facharztverträge seien auf die Versorgung akuter
und chronischer Krankheiten ausgerichtet und die Schnittstellen
zwischen den beiden Versorgungsebenen abgestimmt, so Smetak. "Aber
bisher findet der Austausch von Arztbriefen in der Regel immer noch
per Post oder Fax statt", betont er mit Blick auf das kommende
IT-Vernetzungsprojekt. Diese Tatsache und das jahrelange Gerangel auf
Bundesebene um die elektronische Gesundheitskarte seien Grund genug,
die Vernetzung auf Landesebene zu forcieren, so die Vertragspartner
unisono. Kaum eine der derzeit zahlreichen IT-Initiativen im
deutschen Gesundheitswesen könne auf eine vergleichbare
Vertragskonstruktion und eine seit zehn Jahren gelebte und
eingespielte, analoge Vernetzung zurückgreifen.
Auf Basis der dort entwickelten und gelebten "Kultur der
Zusammenarbeit" sollen ab dem ersten Quartal 2019 zunächst mit drei
IT-Anwendungen sukzessive digitale Strukturen aufgebaut werden, um
die Qualität der Alternativen Regelversorgung auch online nachhaltig
zu sichern: das sind der elektronische Arztbrief, die elektronische
Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (E-AU) und das elektronische
Medikationsdossier (Hauskomet). Der E-Arztbrief wird erstmals klar
definierte Informationen bei Überweisung und Rücküberweisung
strukturiert, und damit digital verarbeitbar, in Echtzeit zur
Verfügung stellen. Die E-AU vereinfacht und beschleunigt die
Verarbeitung, sodass zum Beispiel Krankengeld noch schneller an die
langzeiterkrankten Versicherten überwiesen werden kann. Das
hausärztlich koordinierte Medikationsdossier zeigt allen an der
Behandlung beteiligten Praxen die medikamentöse Therapie an.
Änderungen oder Ergänzungen von Fachärzten werden so lange unter
Vorbehalt angezeigt und protokolliert, bis sie vom Hausarzt bestätigt
und übernommen werden.
Derzeit nehmen knapp 5.000 Haus- und Kinderärzte und 2.500
Fachärzte und Psychotherapeuten an den Verträgen im Südwesten teil.
Sie verantworten gemeinsam die Versorgung von 1,6 Millionen
HZV-Versicherten und mehr als 625.000 Versicherten im gemeinsamen
Facharztprogramm von AOK Baden-Württemberg und Bosch BKK.
Pressekontakt:
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AOK Baden-Württemberg.................Telefon: 0711 2593-229
MEDI Baden-Württemberg................Telefon: 0711 806079-223
Hausärzteverband Baden-Württemberg....Telefon: 0172 201 03 90
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