Die Politik muss dringend die Rahmenbedingungen für
eine wirksame Prävention sowie eine umfassende Versorgung von
Diabetes Mellitus Typ 2-Erkrankten verbessern. Dies ist das Resümee
der Diskussionsteilnehmer der 20. Plattform Gesundheit des IKK e.V.,
die gestern stattfand. In der Landesvertretung Sachsen-Anhalt
diskutierten Vertreter aus Politik, Wissenschaft und
Gesundheitswirtschaft unter der Überschrift "Volkskrankheit Diabetes:
Schicksal oder Herausforderung?".
Ein wesentlicher Meilenstein scheint nun absehbar: "Die Nationale
Diabetesstrategie ist geschrieben", verrät Dietrich Monstadt, MdB,
Berichterstatter für Adipositas und Diabetes der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion. "Wenn der Koalitionspartner mit der
formulierten Strategie mitgeht, kann sie noch vor der Sommerpause
vorliegen." Der Bundestagsabgeordnete verweist darauf, dass die
Strategie zwar nicht gleich eine entsprechende Gesetzgebung bedeute,
aber den Rahmen skizziere, der dann auch die Bereitstellung von
Geldern in der Finanzplanung ermögliche. "Dann ist die
Selbstverwaltung gefragt."
Harald Weinberg, MdB, Gesundheitspolitischer Sprecher der
Bundestagsfraktion DIE LINKE., stellt zu Beginn der Diskussion fest:
"Die Dringlichkeit des Problems Diabetes ist noch nicht in der
Politik angekommen." Dennoch hofft er ebenfalls auf eine rasche
Diabetesstrategie, die den Grundgedanken "health in all policies"
berücksichtige. Er betont die Bedeutung eines Nationalen
Diabetesregisters, etwa nach Vorbild der Schweden. "Wir schwimmen in
Daten", so Weinberg, aber es harpere daran, dass sie nicht richtig
zusammengeführt und aufbereitet werden. Dem stimmt auch Dr. Stefanie
Gerlach zu: "Wir haben Datengräber." Dringend müssten diese gehoben
werden. "Aber seit Jahren herrscht hier Stillstand", so die Leiterin
Gesundheitspolitik und Ernährung von diabetesDE. "Ein
Diabetesregister hilft, Informationen über den Erkrankungsverlauf
sowie die Therapiequalität zu erhalten", erläutert Kai Swoboda,
Stellvertretender Vorstandsvorsitzender der IKK classic. "Die hieraus
gewonnenen Erkenntnisse kommen dabei dem Patienten durch eine
optimierte Versorgung und dem Gesundheitswesen aufgrund effizienterer
Steuerungsmöglichkeiten zugute."
Dass eine Optimierung der Versorgung sowie Prävention auch mit
Blick auf soziale Ungleichheiten gefordert sei, arbeitet Dr. Christa
Scheidt-Nave, Leiterin des Fachgebietes Körperliche Gesundheit beim
Robert Koch-Institut, heraus: Zwar sinke in vielen westlichen Ländern
die Zahl der Neuerkrankungen bei Diabetes Typ 2, Gruppen mit
niedrigem Bildungsgrad seien von diesem Trend aber ausgenommen. So
liege die Zahl der Diabetes-Erkrankten in dieser Bevölkerungsgruppe
insgesamt deutlich höher als bei Gruppen mit mittlerem oder hohem
Bildungsgrad. In der gezielten Förderung von Gesundheit und
Prävention im Lebensverlauf lägen noch Potenziale.
Die Berücksichtigung von Präventionsaspekten in der anstehenden
Reform des Morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs
(Morbi-RSA) sei für die Innungskrankenkassen eine wichtige
Verbesserung der Rahmenbedingungen, so Hans-Jürgen Müller,
Vorstandsvorsitzender des IKK e.V. "Die von den Innungskrankenkassen
seit langem geforderten Präventionsanreize werden jedoch im aktuellen
Entwurf des ''Faire-Kassenwahl-Gesetzes'' nur halbherzig angepackt."
Monstadt teilt die Ansicht des Vorstandsvorsitzenden: "Dass im
aktuellen Morbi-RSA nur Krankheiten berücksichtigt werden, ist
widersinnig."
Gleichzeitig aber verweist Müller als Versichertenvertreter der
IKK gesund plus darauf, dass die Kassen nicht nur die Verpflichtung
hätten, ökonomisch zu entscheiden, sondern auch
Versorgungsbedürfnisse ihrer Versicherten zu begleiten. IKK
classic-Vorstand Swoboda berichtet von der Herausforderung durch die
Diabetes-Erkrankungen in seiner Kasse: Bei der IKK classic seien rund
zehn Prozent der Versicherten von Diabetes betroffen, sie machten 20
Prozent der Leistungsausgaben aus. "Die IKK classic ist zu der
Erkenntnis gekommen, dass neben strukturierten Behandlungen im Rahmen
von DMP-Programmen die Bedeutung von gruppenorientierten,
selektivvertraglichen Ansätzen zunimmt." Denn innerhalb der Gruppe
der Diabetes-Betroffenen würden sich unterschiedliche Bedarfe
ergeben.
Ebenfalls intensiv debattieren die Gäste über das Thema
Delegation, Substitution und Kooperation. Thomas Werne, Inhaber Werne
Orthopädie Schuhtechnik GmbH, Mitglied in diversen
Diabetes-Ausschüssen sowie Mitglied des Vorstands der Innung für
Orthopädieschuhtechnik Baden-Württemberg, verweist darauf, dass hier
ein hohes Potenzial für eine verbesserte Versorgung von Diabetikern
liege und zwar nicht nur im ländlichen Raum. "Wir sind hier
alternativlos", erklärt der Abgeordnete Monstadt. "Wir werden die
Delegation und Substitution weiter ausbauen müssen, sonst werden wir
die gute Gesundheitsversorgung nicht weiter aufrechterhalten können."
Ebenfalls stark wird das Thema von der Bundestagsfraktion DIE LINKE.
diskutiert. Weinberg betont: "Wir bewerten Delegation, Substitution
und Kooperation nicht nur für den ländlichen Raum, sondern auch beim
Thema Diabetes positiv."
Dr. Stefanie Gerlach von diabetesDE verweist in diesem
Zusammenhang auf ein anderes Grundproblem, den Nachwuchsmangel.
"Diabetologie als medizinisches Fach erodiert", so Gerlach.
Lehrstühle für Diabetologie seien nur noch an acht der insgesamt 33
Medizinischen Fakultäten in Deutschland vertreten. Mehr und mehr
diabetologische Abteilungen in Krankenhäusern würden geschlossen. "90
Prozent der Betroffenen werden vom Hausarzt betreut und nur zehn
Prozent von einem ausgewiesenen Diabetologen", weiß Gerlach.
Gesundheitshandwerker Werne fordert den Lehrplan-Ausbau auch in
seinem Fachgebiet: "Die Ausbildung an den vier Meisterschulen für
Orthopädieschuhtechnik muss vereinheitlicht werden und eine
Zertifizierung (Diabetes) ist wünschenswert."
Ein hohes Potenzial bei der künftigen Diabetiker-Versorgung sehen
die Diskutanten durchweg bei der Digitalisierung. Größtes Hemmnis
hierbei sei allerdings der Datenschutz, so IKK classic-Vorstand
Swoboda: "Mit digitalen und telemedizinischen Angeboten könnten wir
die Versorgung im ländlichen Raum deutlich ausbauen, aber dazu fehlen
datenschutzrechtliche Rahmenbedingungen."
Dass man gerade bei dem Thema Diabetes nicht immer mit dem Finger
auf fehlende Rahmenbedingungen zeigen und abwarten dürfe, darüber
kommen alle Teilnehmer überein. "Es ist 5 vor 12", stellt Dr. Sybille
Wunderlich, Chefärztin der Klinik für Innere Medizin, DRK Kliniken
Berlin-Mitte fest. "Natürlich brauchen wir etwa ein
Diabetes-Register, aber wir müssen gleichzeitig Maßnahme ergreifen!"
Gleichzeitig hebt sie die Bedeutung von multiprofessionel-len Teams
hervor. "Handwerk und Medizin, das passt." Swoboda stimmt zu: "Man
muss als Kasse auch einfach mal mit der Versorgung der betroffenen
Versicherten beginnen."
In seinem Schlusswort betont der IKK e.V.-Geschäftsführer Jürgen
Hohnl die Rolle, die er den Kassen bei dem Thema Versorgung allgemein
wie im Fall von Diabetes im Besonderen zuschreibe: "Die Kassen müssen
in die Lage versetzt werden, im Bereich Prävention und Versorgung
vorausschauend zu agieren, zu steuern und zu beraten." Hierbei gelte
selbstverständlich die Einwilligung durch die Versicherten. "Es kann
nicht sein, dass diese Beratungskompetenz aufgrund fehlender
rechtlicher Möglichkeiten der Kassen qualitativ unkontrolliert in den
sozialen Medien erfolgt." Bogenschlagend zum Anfang der Diskussion
mahnte Hohnl, es sei zwar Aufgabe der Politik, Rahmenbedingungen
auszugestalten, aber - mit Verweis auf den aktuellen
Referentenentwurf des "Faire-Kassenwahl-Gesetzes" - dies impliziere
nicht den Eingriff in die Selbstverwaltung.
Über den IKK e.V.:
Der IKK e.V. ist die Interessenvertretung von Innungskrankenkassen
auf Bundesebene. Der Verein wurde 2008 gegründet mit dem Ziel, die
Interessen seiner Mitglieder und deren mehr als fünf Millionen
Versicherten gegenüber allen wesentlichen Beteiligten des
Gesundheitswesens zu vertreten. Dem IKK e.V. gehören die BIG direkt
gesund, die IKK Brandenburg und Berlin, die IKK classic, die IKK
gesund plus, die IKK Nord sowie die IKK Südwest an.
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