Presserklärung des Deutsches Psychotherapeuten Netzwerk
1999, vor 20 Jahren, wurde mit dem Psychotherapeutengesetz eine psychotherapeutische Behandlung 100-prozentige Kassenleistung: eine große Errungenschaft für das Nachkriegsdeutschland, das an den Wunden der Nazidiktatur laborierte. Wir niedergelassenen PsychotherapeutInnen erleben tagtäglich, wie bitter notwendig die Aufarbeitung der in uns allen wirksamen Auswirkungen wie Autoritätshörigkeit, der Bereitschaft zur Grausamkeit, Gewalt, Abstumpfung, zum Wegsehen, zur schulterzuckenden Akzeptanz von Zwangsmaßnahmen und der sadistischen Freude am Leid anderer ist. Heute wohl noch wichtiger denn je!
Wir haben als gesamte Berufsgruppe hart dafür gearbeitet, dass uns eine hohe Akzeptanz entgegengebracht wird. Wir betrachten uns als wichtigen und unverzichtbaren Bestandteil der Gesundheitsversorgung in unserem Land; unsere Arbeit schlägt gerade einmal mit 0,4% der Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen zu Buche.
In einer Psychotherapie erfahren die KlientInnen, wie heilsam es ist, mit einer/m neutralen Unbeteiligten zu sprechen. Mit der vertrauensvollen Beziehung wächst der Mut, die Dinge (wieder) in die eigenen Hände zu nehmen. Dauerthemen in den Therapien sind ständige Umstrukturierungen und erhöhter Arbeitsdruck, sinnfreie Verwaltungsanforderungen, digitale Umstellungen und Neueinführungen. Viele, sehr viele KlientInnen kommen aus dem Gesundheitswesen. Die Flucht gerade aus den pflegenden Berufen ist ein großes Problem, aber sie hat ihre Gründe.
Und nun droht die Digitalisierungswelle das schon lange kranke Gesundheitswesen selbst zu überrollen! Mit Einführung der Telematik-Infrastruktur (TI) begann eine Gesetzesflut sondergleichen. Mit ihr werden zentrale Errungenschaften unserer Demokratie geradezu hinweggefegt: Die
PatientInnen selbst verlieren das Selbstbestimmungsrecht über die von ihnen erhobenen Daten, indem diese ohne Widerspruchsmöglichkeit zentral gespeichert werden; ob beim Arzt, in der Klinik und bald auch in der Apotheke. Und wir PsychotherapeutInnen sehen die Schweigepflicht in Gefahr, unser höchstes Gut. Digitale Anbindung heißt: Jederzeit ist Zugriff auf die von uns erhobenen und gespeicherten Daten möglich.
Die digitale Aufrüstung gerade der vielen kleinen Praxen, gerade auch im ländlichen Bereich ist zudem wirtschaftlich unsinnig. Juristisch und technisch sind die PraxisinhaberInnen die Verantwortlichen für das, was mit den Daten geschieht. Bitter, wie jüngst die Arztpraxen, die an dem großen Gesundheitsdatenskandal beteiligt waren, an den Pranger gestellt wurden. Ein Lehrstück dafür, was passieren wird, wenn die TI ihre ersten Datenlecks präsentiert: Wer schuldig ist, ist vorprogrammiert. Können wir denn daraus nicht die richtigen Schlüsse ziehen? Die angebliche Sicherheit ist schon angesichts der Vielzahl der Zugriffsberechtigten nicht vorstellbar - von bis zu 200.000 TI-Anschlüssen ist die Rede. Da sollen keine unwägbaren Sicherheitsrisiken möglich sein? Es wird immer fehlerhaften Umgang mit technischen Systemen geben. Wer das leugnet, ist realitätsfremd. Daten von psychisch Kranken in den falschen Händen? Unvorstellbar. Da hat Deutschland auch eine historische Verantwortung.
Wir PsychotherapeutInnen wenden uns nicht pauschal gegen die Digitalisierung des Gesundheitswesens, sondern möchten den Wandel sinnhaft und unter Einbezug derjenigen, die mit den Techniken arbeiten wollen bzw. sollen, gestalten. Warum soll es nicht weiterhin Praxen geben, die ohne digitale Technik auskommen? Der Markt regelt sich über Angebot und Nachfrage, auch im Gesundheitswesen. Dass künftig Apps bewährte therapeutische Methoden wie ein vertrauensvolles Gespräch ersetzen, ist falsch verstandener Fortschrittsglaube und rechtfertigt keine Zwangsdigitalisierung. Eine Ergänzung und Erweiterung der Möglichkeiten nehmen wir gerne an, aber die Zerstörung bewährter Strukturen wird das Gesundheitssystem nicht heilen.
Es ist beachtlich, dass trotz des gesetzlichen Zwanges, der Honorarabzüge und weiterer angedrohter Sanktionen immer noch mehr als ein Viertel der betroffenen Praxen sich der Zwangsdigitalisierung verweigern, um ihre Werte und Grundhaltungen zu verteidigen. Aber wie wollen wir denn einen Klima- und Wertewandel erreichen, wenn energieintensive Techniken immer weiter ausgebaut werden? Innehalten, Nachdenken und Verzicht sind das Gebot der Stunde, nicht Wachstum um den Preis unserer schönen Welt. Es wird immer wieder bahnbrechende Erfindungen geben, die sich irgendwann in den Alltag einreihen. Das wird mit der Digitalisierung nicht anders sein. Auch dieser Hype wird abebben. Und wir alle haben unsere Erfahrungen mit den Schattenseiten der digitalen Welt.
Wir betrachten es als Verrat an der Versichertengemeinschaft, dass ihre Gelder in Milliardenhöhe in die TI fließen, ohne dass darüber öffentlich breit informiert und umfassend diskutiert wurde. Geld, das für die Behandlungen fehlen wird. Und dass wir BehandlerInnen nicht einbezogen wurden und werden in Entscheidungen, die unsere Arbeit in ihrem Kern treffen, empört uns immens und ist in einem demokratischen Staat nicht hinnehmbar.
Wir fordern deshalb den Bundesrat auf, folgende Einwände nach Artikel 77 (2) Grundgesetz:
- das DVG in der jetzigen Form abzulehnen,
- die Entscheidung über die Datenspeicherung den Versicherten der gesetzlichen Krankenkassen selbst zu überlassen, so, wie es die DSGVO vorsieht,
- den Praxen, Kliniken, Apotheken etc., den Anschluss an die Telematik-Infrastruktur freizustellen,
- eine öffentliche Information und Diskussion über die Digitalisierung des Gesundheitswesens anzustoßen unter Einbezug der wichtigsten Medien,
- eine angemessene Frist zu setzen für den Einbezug der Betroffenen, am besten über eine umfassende Befragung aller für die TI vorgesehenen Anzuschließenden.