Menschen mit geistigen und schweren Mehrfachbehinderungen stellen
Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegende vor große Herausforderungen: Auf der einen
Seite haben sie bei der Aufnahme ins Krankenhaus Schwierigkeiten, sich an die
neue Situation anzupassen. Sie reagieren anders als andere Menschen auf eine
veränderte Umgebung und fremde Menschen. Auf der anderen Seite sind sie in ihrem
Verhalten und ihrer Kommunikation besonders. Sie können ihre Beschwerden, wie
Schmerzen, oftmals nicht in Worte fassen. Stattdessen zeigen sie ein
außergewöhnliches, vielfach herausforderndes Verhalten als Reaktion auf
Schmerzen wie beispielsweise Schreien, Schlagen oder auch Autoaggression und
Unruhe. Mit diesen Besonderheiten stören sie die normalen Abläufe im Krankenhaus
und fordern von allen Mitarbeitenden zusätzliche Aufmerksamkeit und Zeit ein.
Zudem müssen Ärztinnen und Ärzte ebenso wie Pflegende ihre Kommunikation
individuell auf die Fähigkeiten des Patienten anpassen, beispielsweise eine
einfache Sprache verwenden, Untersuchungsmethoden zeigen statt erklären oder
auch den Patientinnen und Patienten zum Verstehen und Beantworten von Fragen
mehr Zeit einräumen.
Mit Qualitätsverträgen nach § 110a SGB V wurden eine Möglichkeit geschaffen, auf
die Besonderheiten dieser vulnerablen Patientengruppe einzugehen und ihre
stationäre Versorgung zu verbessern sowie den daraus entstehenden Mehraufwand
den Krankenhäusern zu vergüten.
Herausforderung Qualitätsvertrag
Die Gestaltung von Qualitätsverträgen zur Versorgung von Patientinnen und
Patienten mit geistiger Behinderung oder schweren Mehrfachbehinderungen stellt
die Vertragspartner - Krankenhäuser und Krankenkassen - vor Herausforderungen:
Die Möglichkeiten und Fähigkeiten dieser besonderen Patientengruppe sind
individuell sehr verschieden. Dennoch müssen Evaluationskennziffern und
Messgrößen entwickelt werden, die die Verbesserungen für die Patientinnen und
Patienten abbilden. Darüber hinaus muss ein umfassendes Vertragswerk gestaltet
werden, das den Besonderheiten dieser vulnerablen und inhomogenen
Patientengruppe Rechnung trägt.
Mit Blick auf diese Herausforderungen und die Größe dieser Patientengruppe wäre
ein Vertrag, der für mehrere Krankenkassen offen ist, aus Sicht des Deutschen
Evangelischen Krankenhausverbandes (DEKV) wünschenswert. Denn von
mittelgradigen, schweren und schwersten Binderungen sind zwanzig Prozent der
rund 1,5 Millionen Menschen mit geistigen Behinderungen, also rund 300.000
Menschen, betroffen.(1) "Mit der heutigen DEKV-Zukunftswerkstatt im Krankenhaus
Mara der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel möchten wir den Dialog zwischen
Ersatzkassen und unseren Krankenhäusern intensivieren, um dem gemeinsamen Ziel
eines Qualitätsvertrags für Menschen mit geistigen und schweren
Mehrfachbehinderungen im Krankenhaus näher zu kommen. Dazu loten die
evangelischen Krankenhäuser mit Vertretern der Ersatzkassen und weiterer
Kassenarten aus, wo wir bei der qualifizierten Versorgung von Menschen mit
schweren und Mehrfachbehinderungen stehen und prüfen, welche Maßnahmen und
Konzepte die Versorgungsqualität weiter verbessern. Aus dieser Analyse können
Vertragsbausteine entstehen", erklärt Christoph Radbruch, Vorstandsvorsitzender
des DEKV.
Dr. Rainer Norden, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der v.
Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel, betont: "Bethel setzt sich seit mehr als
150 Jahren für die Belange von Menschen mit Behinderungen ein. Die Einführung
der Qualitätsverträge ist ein essentieller Meilenstein für die Verbesserung der
Krankenversorgung dieser Menschen. Es ist daher eine logische Konsequenz, dass
wir uns gemeinsam mit dem DEKV für die Umsetzung dieses Vorhabens einsetzen".
Dr. Matthias Ernst, Vorsitzender Geschäftsführer des Krankenhauses Mara, zu dem
auch das Zentrum für Menschen mit Behinderungen gehört, bestätigt den Bedarf:
"Die hohe Anfrage an unser Zentrum, in dem jährlich über 2.000 Menschen mit
schweren und schwersten Mehrfachbehinderungen stationär und ambulant behandelt
werden, bestätigt den Bedarf einer individuellen Behandlung dieser
Patientengruppe, die sich nach klaren und bedürfnisgerechten Qualitätskriterien
orientiert".
DEKV definiert Handlungsbedarf in fünf Bereichen
Um Patientinnen und Patienten mit schweren Behinderungen gerecht zu werden,
müssen Strukturen und Prozesse in Krankenhäusern angepasst werden.
- Ein strukturiertes Aufnahmemanagement muss Menschen mit
geistigen und Mehrfachbehinderungen die Möglichkeit bieten, sich
der neuen Umgebung anzupassen und Mitarbeitenden Zeit geben, auf
die Besonderheiten und die Kommunikationsmöglichkeiten der
Betroffenen einzugehen.
- Darüber hinaus ist es gerade für diese Patientengruppe wichtig,
in der Ausnahmesituation im Krankenhaus eine vertraute
Bezugsperson an der Seite zu haben. Diese Bezugsperson sollte
Ansprechpartner für alle Fragen sein und mit den
Kommunikationsfähigkeiten des Patienten vertraut sein.
- Alle Mitarbeitenden müssen die Besonderheiten der Kommunikation
kennen und Diagnosen sollten bei komplizierten Fällen in
interdisziplinären Fallkonferenzen besprochen werden. Wichtig
ist dabei, einen Behandlungsplan zu entwickeln, der
bedarfsgerecht und zielgerichtet ist, aber den Menschen als
Ganzes und sein Umfeld mit einbezieht.
- Ein strukturiertes Entlassmanagement muss auf die Bedürfnisse
von Menschen mit geistigen und schweren Mehrfachbehinderungen
abgestimmt werden. Zudem muss es sicherstellen, dass die
Patienteninformationen des Krankenhauses an die betreuenden
Einrichtungen und den behandelnden Arzt weitergegeben werden.
- Um Menschen mit Behinderungen qualifiziert zu versorgen, müssen
alle Mitarbeitenden im Krankenhaus entsprechend fort- und
weitergebildet werden.
Quellen:
(1) Spappok T. et al. Dtsch. Ärztebl Int 2019; 116: 809-816. DOI:
10.3238/arztebl.2019.0809
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