Jeder vierte Deutsche ist auf die Versorgung mit Hilfsmitteln angewiesen. Weil die überwiegende Mehrzahl der Patientinnen und Patienten ohne Hilfsmittel in ihrer Mobilität eingeschränkt ist, wurde die wohnortnahe Versorgung gesetzlich fest verankert. Doch noch immer gibt es gesetzliche Krankenkassen, die eine flächendeckende wohnortnahe Versorgung nicht ausreichend im Blick haben. So unterzeichnete zuletzt die IKK Classic im Bereich der Versorgung mit reha-technischen Hilfsmitteln - dies sind unter anderem Rollstühle, Toilettenstühle, Badewannenlifter - einen Vertrag mit einer Einzelfirma.
Versorgung im Versand - Einweisung per Telefon
Der Vertrag sieht die Versorgung mit diversen Hilfsmitteln im Versandweg ohne persönliche Beratung und ohne Montage vor Ort vor. Hierdurch wird ein erhöhtes Sturz- und Verletzungsrisiko der Patienten regelrecht in Kauf genommen. Ebenfalls sieht der Vertrag die Selbstmontage des Hilfsmittels durch die Patientinnen und Patienten vor.
Eine Toilettensitzerhöhung selbst montieren, das mag für gesunde Menschen ohne Behinderung und mit ein wenig handwerklichem Geschick kein Problem sein. Von Patientinnen und Patienten, die das Hilfsmittel verordnet erhalten haben, weil sie immobil sind und sich in der Regel gar nicht bücken können, kann dies nicht verlangt werden. Ältere Menschen sehen sich alleingelassen und können so ohne fremde Hilfe das verordnete Produkt nicht einsetzen. Verträge anderer Krankenkassen, wie beispielsweise der AOK, sehen daher die persönliche Einweisung in das Hilfsmittel als verbindliche Leistung zwingend vor.
Dieser Einzelvertrag soll nun als Blaupause für die bundesweite Versorgung der etwa drei Millionen Versicherten der IKK Classic dienen. Sanitätshäuser, die diesem Vertrag nicht beitreten, dürfen keine Versicherten der IKK versorgen. Patientinnen und Patienten, die bei der Krankenkasse versichert sind, müssen wegen der mangelhaften Flächendeckung jetzt mit Verzögerungen ihrer Versorgung und mit einer unzureichenden Vorortbetreuung rechnen.
Der Einzelvertrag: Preisdumping durch die Hintertür
Dem Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik (BIV-OT), der die Sanitätshäuser auf Bundesebene vertritt, wurde zuvor ebenfalls ein Vertrag* angeboten - aber dieser orientierte sich an den Ergebnissen der inzwischen verbotenen Ausschreibungen. Nach einem Jahr zäher Auseinandersetzungen erklärte die IKK Classic die Verhandlungen in diesem Jahr einseitig für gescheitert. Die Schiedsstelle, die die Gesetzgebung** für diese Fälle vorsieht, wurde von ihr allerdings nicht angerufen. Stattdessen wurde ein Vertrag mit einem Einzelunternehmen, der SaniMed GmbH, unterschrieben. Inzwischen sind weitere Einzelbetriebe dem Vertrag beigetreten, von einer Flächendeckung, die eine wohnortnahe Versorgung im Sinne des Gesetzgebers sichert, kann jedoch nicht die Rede sein.
"Seit September 2019 versuchen wir mit der IKK Classic einen Vertrag mit einer ordentlichen Flächendeckung und einer entsprechenden Versorgungsqualität zu schließen. Das uns angebotene Preisniveau liegt zum Teil mehr als 40 Prozent unter dem aktuellen Marktpreis und orientiert sich klar an den verbotenen früheren Ausschreibungsverträgen. Als Spitzenverband vertreten wir bundesweit Sanitätshäuser und orthopädietechnische Werkstätten, haben damit eine große Verantwortung gegenüber unseren Betrieben sowie den Patientinnen und Patienten. Wir können keine Verträge mit Preisen unterzeichnen, von denen wir genau wissen, dass eine wirtschaftliche Versorgung im Einklang mit den gesetzlich verankerten Qualitätsansprüchen unmöglich ist. Denn dann würden wir nicht nur verantwortungslos handeln, sondern gegen das Gesetz agieren", betont Albin Mayer, Vizepräsident und Vorsitzender des Wirtschaftsausschusses des BIV-OT.
Die an den Verhandlungen beteiligten Verbände haben bereits eine Beschwerde beim Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS) eingereicht, der Aufsichtsbehörde unter anderem über die bundesunmittelbaren Träger der gesetzlichen Krankenversicherung. Zugleich wurde ein Beschwerdeschreiben an den Vorstandsvorsitzenden des IKK e.V. und Präsidenten des Zentralverbands des Deutschen Handwerks, Hans Peter Wollseifer, gerichtet.
Zwei Gesetzesnovellen ohne Durchschlagskraft
Zum Hintergrund: Bereits 2017 sah sich der Gesetzgeber gezwungen, auf Fehlentwicklungen in der Versorgung mit Hilfsmitteln zu reagieren. Besonders die Erfahrungen bei der Versorgung mit Inkontinenz-Produkten zeigte drastisch, wie sehr Patientinnen und Patienten unter Dumpingpreisen zu leiden hatten. Bilder von Lastwagen, die Großlieferungen von Inkontinenzprodukten abluden, für die in Privatwohnungen kaum Lagerkapazität bestand, gingen durch die Presse. Die Verantwortung für die Versorgung von teils schwerstbehinderten Menschen wurde über das Instrument der Ausschreibung an Unternehmen vergeben, die eher in der Logistik und dem Versandhandel verankert waren und durch Massenauslieferungen günstige Preise sicherten. Zudem klagten die Betroffenen über massive Qualitätsmängel. Mit der Einschränkung der Ausschreibungen im Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetz (HHVG) und dem darauffolgenden Verbot im Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) sollte diese Praxis endgültig beendet und die Qualität in den Markt zurückgebracht werden. Den gesetzlichen Krankenkassen wurde grundsätzlich auferlegt, die in den Verträgen verankerte Qualität zu kontrollieren. Denn dies geschah bis dahin deutlich zu wenig. Doch auch hier haben die Krankenkassen eine Grauzone gefunden, um den in HHVG und TSVG ausgedrückten Willen des Gesetzgebers zu umgehen: Den Einzelvertrag.
Das BAS äußerte sich bereits besorgt über die Entwicklungen. So schrieb die Behörde im Juni 2020 an die Krankenkassen: "Uns liegen Erkenntnisse vor, dass die Krankenkassen ihrer durch die Vorschrift des § 127 Abs. 7 SGB V begründeten Verpflichtung zu Auffälligkeits- und Stichprobenprüfungen bislang nicht oder nicht in ausreichendem Maße nachgekommen sind." In diesem Zusammenhang forderte das BAS die Krankenkassen auf, die Überprüfungsergebnisse zur Verfügung zu stellen.
Außerdem verlangen inzwischen alle bundesweiten Vertreter und Verbände der Leistungserbringer ein Ende der Grauzone Einzelvertrag. Das bedeutet, dass künftig nicht mehr jeder beliebige Betrieb, der Hilfsmittel liefern kann, Verhandlungen über die Versorgung von Versicherten führen darf. Im Gespräch ist hierbei die Beschränkung der Verhandlungen auf die Ebene der Verbände und bundesweiten Zusammenschlüsse von Sanitätshäusern. Dies soll Partikularinteressen begrenzen und sicherstellen, dass mit den ausgehandelten Preis-/Leistungsverhältnissen die Versorgung aller Versicherten gewährleistet ist.
"Wir sind entsetzt, wie einige Krankenkassen vorgehen. Eigentlich sollte allen Parteien im Gesundheitswesen bewusst sein, welch hohe Verantwortung sie tragen. Natürlich hat die Mehrheit der Krankenkassen sicherlich das Wohl der Patientinnen und Patienten im Blick. Trotzdem richten Einzelne durch ihr Vorgehen erheblichen Schaden an. Sie scheinen nicht verstanden zu haben, dass ein Unterschied zwischen einer ausreichenden, zweckmäßigen und wirtschaftlichen Versorgung nach § 12 Sozialgesetzbuch (SGB V, Wirtschaftlichkeitsgebot) und Budgeteinsparungen zu Lasten der Gesundheit der Versicherten sowie der Qualität der Versorgung besteht. Wenn zwei Gesetze - das HHVG und das TSVG - nicht ausreichen, um Preisdumping auf dem Rücken von Versicherten Schranken zu setzen, muss eine dritte Gesetzesinitiative folgen: Es kann nur auf das Verbot für Krankenkassen hinauslaufen, mit einzelnen Marktteilnehmern Verträge über die flächendeckende Versorgungen zu schließen. Sonst ruinieren Wenige den wirklich guten Standard unseres Gesundheitssystems", unterstreicht Alf Reuter, Präsident des BIV-OT.
*Nach § 127 Abs. 1 Satz 1 SGB V sind die Krankenkassen verpflichtet, für alle gängigen Versorgungen mit Hilfsmitteln Verträge mit Sanitätshäusern bzw. orthopädietechnischen Betrieben (Leistungserbringer) zu schließen, um eine wohnortnahe, flächendeckende Versorgung ihrer Versicherten im Sachleistungssystem zu gewährleisten. Die Pflicht zu Vertragsabschlüssen korrespondiert mit dem Anspruch der Versicherten nach § 33 Abs. 6 SGB V auf Versorgung mit Hilfsmitteln, der sich auf die Inanspruchnahme von Leistungserbringern beschränkt, mit denen die Krankenkassen Verträge abgeschlossen haben.
**Mit dem Medizinprodukte-Anpassungsgesetz-EU (MPEUAnpG) hat der Gesetzgeber ein Schiedsverfahren in § 127 Abs. 1a SGB V eingeführt, sodass bei einer Nichteinigung der streitige Inhalt der Verträge nach § 127 Abs. 1 SGB V auf Anruf einer der Verhandlungspartner durch eine von den jeweiligen Vertragspartnern zu bestimmende unabhängige Schiedsperson innerhalb von drei Monaten ab Bestimmung der Schiedsperson festgelegt wird.
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