fit und munter - Das Virus, die Menschen und das Leben.

fit und munter

Das Virus, die Menschen und das Leben.

Die Bedeutung der Corona Pandemie für Staat, Wirtschaft und Gesellschaft
Ellis Huber, 9.11.2020
Mehr als zwei Millionen Todesfälle durch Covid-19, über 80 Millionen gemessene Infektionen mit dem Sars-Cov-2 Virus und über 800 Millionen real infizierte Menschen sind weltweit bis zum Jahresende 2020 durchaus im Bereich des Möglichen. Die Corona Pandemie übertrifft mit ihrer Wirkung die meisten einzelnen Seuchen der letzten hundert Jahre. Nur die
Spanische Grippe von 1918-20 war schlimmer und die Tuberkulose tötet gegenwärtig immer noch mehr Menschen. Insgesamt 160.000 Menschen sterben weltweit jeden Tag, also etwa 58 Millionen pro Jahr und darunter aber auch 12 Millionen durch die verschiedenen Infektionskrankheiten. Die Corona Pandemie verursacht mit täglich ca. 8.000 Todesfällen,
auch wenn es noch schlimmer kommt, nur 5% der Todesfälle insgesamt und weniger als 20% des gesamten Sterbens durch Infektionskrankheiten. Corona beschäftigt und beängstigt
gegenwärtig aber so sehr, dass die anderen Todesgefahren wie verdrängt erscheinen. Das Corona Virus wirkt als kulturelles Ereignis und offenbart dabei die Widersprüche der
globalen Lebenswelten. Die Pandemie zwingt die Menschheit zu einer grundlegenden Neuorientierung, die Albert Einstein stimmig so formuliert hat: „So sehe ich für den Menschen, will er die Zukunft seines Geschlechtes sichern, die einzige Chance darin, dass er zwei ganz einfache Einsichten endlich praktisch beherzigt: dass sein Schicksal mit dem der Mitmenschen in allen Teilen der Erde unlösbar verbunden ist und dass er zur Natur und diese nicht ihm gehört.“ Die Corona Pandemie übermittelt der Menschheit eine eindeutige Botschaft: respektiert die Grenzen der Natur und der natürlichen Ressourcen und pflegt künftig eine nachhaltige Lebens- wie Wirtschaftskultur. Mutter Erde muss überleben können, wenn wir selbst überleben wollen. Das Virus markiert also eine Zeitenwende. Wir brauchen
neue Antworten: Wie wollen wir miteinander leben, wie wirtschaften und Gesellschaft bilden? Wie können wir weltweit kooperieren und allen Menschen mit Würde und Achtung
begegnen? Darüber reflektiere und informiere ich mit einem vierteiligen Artikel zu den verschiedenen Aspekten einer notwendigen Neuorientierung von Wirtschaft, Staat und
Gesellschaft.

Teil I
bewertet die Corona Krise und formuliert die übergreifenden Ziele und Aufgaben, die mit der Corona Pandemie einhergehen, beschreibt die Herausforderungen der Zeitenwende und die notwendigen sozialen Innovationen.
Teil II
reflektiert die Bedeutung des Corona Virus für das Leben und das Sterben in unserer Welt. Was lehrt uns die Corona Pandemie und wie sind lernende Gesellschaften und
demokratische Verhältnisse politisch zu führen?
Teil III
beschäftigt sich mit den Krankheitserregern, die wir kennen und mit der Natur von Pandemien, die über uns gekommen sind und auch künftig kommen werden. Wie hängen individuelle und soziale Gesundheit miteinander zusammen und wie lassen sich die Gesundheitsgefahren unserer Welt wirksamer und nachhaltiger bewältigen.
Teil IV
entwirft Grundprinzipien für Gesundheitssysteme und Wirtschaftskulturen, die den Menschen dienen und unsere Menschlichkeit stärken. Wie gestalten wir gesunde
Gesellschaften und wie orientieren wir uns neu zwischen Ethikzielen und Profitinteressen? Die Zukunftsperspektiven einer Gemeinwohlökonomie und einer Gesunden Marktwirtschaft
formulieren dabei Visionen, die eine pandemiefördernde Gesellschafts- und Wirtschaftskultur überwinden helfen. Welche Heilkunst für Staat, Wirtschaft und Gesellschaft können wir in
Theorie und Praxis realisieren?

Eine Literaturliste und Hinweise zu den in den Texten angesprochenen Informations- und Kommunikationsportalen ergänzen als Anhang die Ausarbeitung mit ihren vier Teilkapiteln.

Teil I
1 Krankheit und Sterben gehören zum Leben
1.1 Mit dem Corona Virus leben lernen
1.2 Die Politik der Angst überwinden
1.3 Globale Regeln und kommunales Handeln umsetzen
1.4 Es ist eine Herausforderung der Natur, aber keine Menschheitskatastrophe
1.5 Politisches, wirtschaftliches und gesellschaftliches Umdenken steht an
1.6 Ein Weckruf für die freie Welt
1.7 Lebensrisiken, Lebewesen und Gesunde Gesellschaften


1 Krankheit und Sterben gehören zum Leben

Die Corona Pandemie beschäftigt alle Staaten der Welt. Am Schlimmsten leiden daran die
Menschen in Amerika und Europa. Peru mit 108 Todesfällen auf 100.000 Einwohner ist am
stärksten betroffen. Bolivien, Brasilien, Chile, Ecuador, Mexiko, Argentinien und die USA
verzeichnen jeweils über 70 Todesfälle auf 100.000 Einwohner. Europa erlebt die erwartete
zweite Welle der Corona Pandemie in einem nicht erwarteten Ausmaß und früher als
vorhergesehen. Belgien trifft es mit 104 Todesfällen auf 100.000 Einwohner besonders hart.
Spanien meldet 78, Großbritannien 71, Italien 65, Schweden 58, Frankreich 56, die Schweiz
28 und Deutschland und Österreich nur 13 Todesfälle auf 100.000 Einwohner. Die Zahl der
gemessenen Infektionen steigt überaus stark und übertrifft diesen Herbst in vielen Ländern
deutlich die Werte aus dem Frühjahr. In Europa sterben jährlich im Durchschnitt 1.070
Menschen auf 100.000 Einwohner. Die Corona Todesfälle sind damit im Vergleich
einzuordnen und liegen bei 2 bis 10 Prozent der üblichen Sterberaten.

Die großen Metropolen entwickeln sich zu Hotspots des Infektionsgeschehens mit Corona.
Städte wie London, Brüssel, Madrid, Paris, Rom, Prag und Wien oder Berlin, Hamburg,
Frankfurt, Köln und Bremen sind Treiber der Ausbreitung von Sars-Cov-2 Viren. Fast
300.000 Todesfälle in Europa und deutlich mehr als das Vierfache, über 1,3 Millionen werden
jetzt weltweit mit der Corona Pandemie in Zusammenhang gebracht und bis zum Jahresende
kann sich diese Zahl durchaus verdoppeln oder gar verdreifachen. Mehr Todesfälle durch
Pandemien mit Viren seit 100 Jahren brachten nur die Spanische Grippe 1918-20 und seit
1980 AIDS und HIV mit sich. Die Asiatische Grippe 1957-58, die Honkong Grippe 1968-70
und die Influenza Pandemie 2017-18 waren vergleichbar schrecklich. Am schlimmsten aber
wütet weltweit immer noch die Tuberkulose mit 1,5 Millionen und das HIV-Virus mit 1,7
Millionen Todesfällen. Und: im laufenden Jahr sind bereits, nach den Daten der
„worldometer“ Statistiken, mehr als elf Millionen Menschen an anderen
Infektionskrankheiten gestorben, gegen die es durchaus wirksame Medikamente und
Impfungen gibt (https://www.worldometers.info).

Diese Tatsache ist den Menschen kaum bewusst: Mit dem Corona Virus geht nur ein kleiner
Teil des alltäglichen Sterbens der Menschen einher. In Belgien sind in diesem Jahr 11,3
Prozent, in Spanien 9,2, in Großbritannien 7,9, in Schweden 6,7, in Italien und Frankreich 6,3
und in Österreich nur 1,4 und in Deutschland 1,2 Prozent der Sterbefälle mit dem Corona
Virus verknüpft. Wie haben gelernt, mit unterschiedlichsten Infektionskrankheiten und
anderen tödlichen Ereignissen, mit unserer Sterblichkeit und den vielfältigen Lebensrisiken zu
leben und wir werden auch lernen, mit dem Corona Virus zu leben. Dieser Lernprozess steht
als politische wie gesellschaftliche Herausforderung an und solange der Anteil des Sterbens
durch die Covid-19 Krankheiten unter einem Zehntel des normalen Sterbens liegen, ist die damit verbundene Angst und Panik relativ im Bezug zu den 90 Prozent anderer
Todesursachen zu sehen. Corona ist eine von vielen Bedrohungen des Lebens. Die
Risikokommunikation zur Corona Pandemie sollte das immer wieder transparent machen,
damit Angst, Panik und die Emotionen eines individuellen wie sozialen Kontrollverlustes als
krankmachende Faktoren minimiert werden.


1.1 Mit dem Corona Virus leben lernen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht vom „Unheil“, das wie eine Naturkatastrophe über
uns gekommen sei. Die Ausbreitung von Infektionskrankheiten ist aber von menschlichen
Verhaltensweisen und sozialen Verhältnissen abhängig. Für Europa waren bisher die
Schrecken tödlicher Infektionen in fernen und armen Ländern angesiedelt, also weit weg.
Jetzt erscheint die Lage plötzlich überaus dramatisch und bedrohlich. Im Frühjahr hat der
damit einhergehende Schock diszipliniert und beschützend gewirkt. Die Regeln waren für die
meisten Menschen einsichtig und akzeptabel und der ganze Europäische Kontinent erlebte
von Land zu Land unterschiedliche Lockdowns und Shutdowns. Die im Lauf des Jahres
gemachten Lern- und Lehrprozesse führten zu mehr Wissen, mehr Verständnis und mehr
Sicherheit im Umgang mit den realen Corona Gefahren. Kritik an der Risikokommunikation,
an einer überzogenen Angstmache oder einer autoritativen Politik konnte auch geäußert
werden und viele fachkundige Personen wie Organisationen engagierten sich. Die Nationale
Akademie der Wissenschaften, die Leopoldina beteiligte sich mit differenzierten
Positionspapieren ebenso wie das Deutsche Netzwerk Evidenzbasierte Medizin e.V. oder ein
Kreis von Wissenschaftlern und Gesundheitsexperten um die ehemaligen Gesundheitsweisen
Matthias Schrappe und Gerd Glaeske und dem Vorsitzenden des BKK-Dachverbands Franz
Knieps.

Viele Experten plädieren immer noch für eine breite gesellschaftliche und wissenschaftliche
Debatte über geeignete Präventionsmaßnahmen und beklagen die einseitige Positionierung
der Politik auf das Virus und die Virologen. Die Dritte Ad-hoc-Stellungnahme der Leopoldina
mahnte beispielsweise: „Bereits bestehende globale Herausforderungen wie insbesondere der
Klima- und Artenschutz verschwinden mit der Coronavirus-Krise nicht. Politische
Maßnahmen sollten sich auf nationaler wie internationaler Ebene an den Prinzipen von
ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit, Zukunftsverträglichkeit und Resilienzgewinnung
orientieren.“ Das Netzwerk Evidenzbasierte Medizin hinterfragte die Teststrategie und
kritisierte, dass nicht täglich gemessen und berichtet wird, wie viele Patienten wegen einer
Pneumonie durch andere Erreger ins Krankenhaus oder auf eine Intensivstation kommen. In
Deutschland erkranken nämlich jedes Jahr 660.000 Menschen an einer ambulant erworbenen
Pneumonie“ und 40.000 Menschen oder 49 auf 100.000 Einwohner versterben daran. „Die
ambulant erworbene Pneumonie wird durch verschiedenste Erreger verursacht, vor allem
Pneumokokken und Influenza, und ist als hochkontagiös zu betrachten. Ähnlich wie bei
Covid-19 sind vor allem ältere Menschen betroffen und gefährdet.“ Diese Beispiele eines
offenen Diskurses über Sinn und Nutzen der gesellschaftlichen Umgangsformen sind
Bestandteil einer Lernenden Gesellschaft und Vorrausetzung für die Übernahme von
individueller Verantwortung und die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger zu sozialer
Verantwortlichkeit.

Das Virus ist nichts, der betroffene Mensch und seine Lebenswelt sind alles. Dieser Satz fasst
die Erkenntnisse der Medizin und der Gesundheitswissenschaften im Umgang mit
Pandemien, Epidemien und Infektionskrankheiten zusammen. Mit der Antwort des
individuellen Menschen und der jeweiligen Gesellschaft auf einen Krankheitserreger
entscheidet sich auch die Gefährlichkeit und Auswirkung des Sars-CoV-2 Virus. Die psychosozialen Auswirkungen der Pandemie und die Psychodynamik der interagierenden
Kräfte werden jetzt in der zweiten Welle vernachlässigt. Der einflussreiche Virologe Christian
Drosten rät in einem Interview in der Neuen Osnabrücker Zeitung: „Am besten wäre es, wir
täten alle so, als wären wir infiziert und wollten andere vor Ansteckung schützen“ oder: „Wir
tun so, als wäre der andere infiziert und wir wollten uns selbst schützen. Daraus ergibt sich
unser Verhalten.“ Er beschreibt so ein individuelles Verhalten, das jeden Menschen als
gefährlich einordnet und soziale Begegnungen unter Menschen als Bedrohung empfindet. Es
ist der Tod allen sozialen Lebens, wenn der Kampf gegen das Virus absolut gesetzt und die
gesundheitsförderliche Bedeutung des sozialen Miteinanders nicht mehr gesehen wird. Dieses
Denken und Verhalten entfremdet die Menschen voneinander und atomisiert die Gesellschaft.
Wut, Aggressionen und Depressionen, Angst und tiefe Verunsicherung sind die emotionalen
Folgen der gesellschaftlichen Spaltungsprozesse. Kritische wie nachdenkliche Stimmen
finden kein Gehör mehr und die Sehnsucht nach einer harten Hand wird übermächtig.

Das Netzwerk Evidenzbasierte Medizin wird dann ebenso der Verharmlosung des Corona
Virus bezichtigt wie die beiden Epidemiologen Hendrik Streeck und Jonas Schmidt-Chanasit,
die gemeinsam mit Ärzteverbänden neue Vorschläge zur Bewältigung der Pandemie
entwickelt haben. Die Politik und die Öffentlichkeit fordern eine Wissenschaft, die Wahrheit
schenkt und Sicherheit gibt. Neugieriges Suchen oder zweifelnde Fragen, die wirklichen
Quellen wissenschaftlicher Erkenntnis, werden als unpassend und störend abgewehrt. Wer
Maßnahmen hinterfragt sieht sich plötzlich als Häretiker ausgegrenzt und zu den Corona
Leugnern ausgestoßen. Die aggressive Stimmung in der Öffentlichkeit erlaubt nur ein richtig
oder falsch und ein gut oder böse. Die Fronten verhärten sich und ein dialogisches Abwägen
gilt als moralisch verwerflich. Diese Spaltungsprozesse in der Gesellschaft verursachen
dauerhaften Stress und der schwächt die individuelle wie soziale Resilienz, wird also zum
eigenständigen Krankheitsfaktor, der die Anfälligkeit für viele, auch tödliche
Krankheitsereignisse erhöht. Jürgen Windeler, der Leiter des Instituts für Qualität und
Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) artikuliert die Probleme einer
wissenschaftlichen Dogmatik in der Süddeutschen Zeitung am 29.10.2020 zutreffend: „Tun
wir nicht so. als wüsste jeder von uns allein den richtigen Weg – oder als gäbe es ihn
überhaupt. Wir müssen nicht alle einer Meinung sein, aber wir könnten uns über die Art der
Auseinandersetzung verständigen und wir könnten uns wenigstens zuhören. Das ist im
Übrigen der erfolgreichste Weg, den Verschwörungsextremisten die Unterstützung zu
entziehen.“

Die zweite Welle der Corona Pandemie reaktiviert gegenwärtig alle Angst auf das Neue und
der „Wellenbrecher-Lockdown“ fixiert die Wahrnehmung mit aller Macht auf das Virus. Die
Botschaft der Pandemie an die Menschen wird verdrängt, indem das Virus als Botschafter
dämonisiert und dann mit aller Macht bekriegt wird. Bundeskanzlerin Angela Merkel fordert
die Menschen eindringlich auf, soziale Kontakte weitestgehend einzuschränken und möglichst
wenig zu reisen: "Ich bitte Sie: Verzichten Sie auf jede Reise, die nicht wirklich zwingend
notwendig ist, auf jede Feier, die nicht wirklich zwingend notwendig ist. Bitte bleiben Sie,
wenn immer möglich, zu Hause, an Ihrem Wohnort." Mit den zögerlichen Reaktionen in
einzelnen Bundesländern ist sie sichtlich unzufrieden. Bayerns Ministerpräsident Markus
Söder spricht vom "Kontrollverlust" in einigen Regionen und die Landesregierung von
Baden-Württemberg ruft die höchste Corona-Alarmstufe aus. Bundesärztepräsident Klaus
Reinhardt warnt vor Angstmache: "Ich glaube, dass diese Vorstellung, dass man dieses Virus
ganz vertreiben kann, eine irrige ist." Man müsse lernen, mit einer Zunahme der
Infektionszahlen umzugehen. Damit erntet er dann ebenso wüste Beschimpfungen wie andere
Fachleute, die zu einer gelassenen und relativen Risikoanalyse auffordern. Angela Merkel
wirkt wohltuend integrativ und zeigt dabei auch die Ambivalenz zwischen einer autoritativen und partizipativen Politik oder einem zentralen Regelungszwang und dem Vertrauen auf die
bürgerschaftliche Selbstorganisation vor Ort.


1.2 Die Politik der Angst überwinden: Reinventing Politics

Die Entscheidungen und Maßnahmen der Regierungsrunde von Ministerpräsidenten und
Kanzlerin wirken in ihrer paternalistischen Fürsorgehaltung eher hilflos als souverän.
Reiseverbote oder Beherbergungsverbote für Familien und Freunde, die sich an die
Grundregeln halten, ändern ebenso wenig an den Infektionsgefahren wie Sperrstunden für
Restaurants und Bars, die ein wirksames Hygienekonzept umsetzen. Das ist den Menschen,
die achtsam und verantwortlich mit den Situationen umgehen, nicht mehr verständlich und für
manche Gerichte auch nicht mehr verhältnismäßig. Autonome Bürgerinnen und Bürger
empfinden die Politik der Angst und Drohung als respektlose Bevormundung und als
Missachtung ihrer eigenen Handlungsbereitschaft. Der Ärger steigt und die Akzeptanz der
Maßnahmen bröckelt. Ein ungeschicktes Strategiepapier aus dem Innenministerium, das zu
Beginn der Pandemie Angst und Schockierung als einen Hebel zur Bürgerfolgsamkeit
propagierte, wirkt immer noch nach. Die Gesellschaft sucht immer noch nach einem
demokratischen Weg des kooperativen Miteinanders. Der überwiegende Teil der Bevölkerung
hält sich an vernünftige Regeln und das ist zur Bewältigung der Pandemie hinreichend. Nur
mit den Menschen, nicht für sie oder über sie hinweg gelingt das notwendige Maß an
Solidarität und die konsequente Kontaktverfolgung. Das kann kein Gesundheitsamt für die
Leute machen, das braucht die bürgerschaftliche Selbstorganisation.

Große Familienfeiern, laute Bierfeste und wilde Partys unterbleiben dann, wenn die
Menschen es einsehen können. Sinn und Zweck von Regeln zur Infektionsvermeidung sind
von den Lebenswelten abhängig und auf örtlicher Ebene muss daher entschieden werden,
welche Maßnahmen sinnvoll und wirksam sind. Das Berchtesgadener Land wird in den
Lockdown geschickt. Den Menschen vor Ort ist das aber alles zu schnell, zu radikal, zu
extrem und auch nicht verständlich. Schul- und Kindergartenschließung erachten sie als völlig
überzogen. Die bekannte Skiläuferin Hilde Gerg vermietet Ferienwohnungen und sagt:
„Vielleicht muss man sich auch einfach trauen, etwas mutiger zu sein, etwas positiver und
nicht mit so viel Angst. Natürlich ist es logisch: Das Sicherste ist, alles zuzumachen. Wenn
man ein kleines Kind betreut, und es lernt gerade laufen, dann setzt man es ja auch in einen
Laufstall, weil es das Sicherste ist. Wir müssen einfach Lösungen finden, mit diesem Virus zu
leben – denn so, wie es aussieht, wird es uns leider noch länger verfolgen.“ Also:
Laufstallpolitik erreicht die Menschen nicht.

Weitere Regionen werden nun in den verschärften Lockdown geschickt und in Deutschland
ist der Messwert von 50 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner (7 Tage Inzidenz) längst
überschritten. Die Strategie auf der Basis von Lockdowns und amtlicher Kontaktverfolgung
ist unmöglicher geworden. Eine Politik mit harter Hand und autoritärem Gestus muss
scheitern. Es braucht eine Strategie, die mit den Menschen arbeitet und ihre
Handlungsbereitschaft würdigt. Ärzte, Gesundheitsämter, Bürgermeister und Landräte wissen
am besten, wie die Menschen vor Ort ticken und dort können die notwendigen Regeln
entsprechend der Infektionsrealität und den regionalen Gegebenheiten sinnvoll und
überzeugend durchgesetzt werden. Sozial individuell, situativ angepasst, kreativ vermittelt,
also lebensnah und pragmatisch gelingt das Leben mit dem Virus.

Grenzwerte wie 35, 50 oder 100 Neuinfektionen auf 100.000 oder gelbe, rote und dunkelrote
Schwellen als Auslöser für strenge Vorgaben sind nicht vernünftig, da symptomlose
Virusträger nicht gemessen werden. Auch die wirkliche Infektiosität der einzelnen Menschen wird nicht berücksichtigt. Wo viel gemessen wird, sind die Zahlen auch höher. Große
Viruslast bei einer Person infiziert auch mehr. „Haben wir nach 6 Monaten
Pandemieerfahrung keine andere Strategie parat? Ich leugne dieses Virus und die möglichen
katastrophalen Folgen nicht, im Gegenteil. Aber alle Systeme auf null zu fahren kann auf
Dauer nicht erfolgreich sein“, sagt Hilde Gerg auf Instagram. Das spricht den Menschen aus
dem Herzen. Der Geist einer autoritativen Politik muss jetzt durch eine partizipative
politische Führung abgelöst werden. Bundesregierung und Landesregierungen sollten der
kreativen Kunst der Selbstorganisation, dem sozialen Verantwortungsempfinden und der
aktiven Mitmenschlichkeit der Bürgerinnen und Bürger mehr vertrauen und „Reinventing
Politics“ als ein gangbares Bewältigungskonzept erkennen lernen.


1.3 Globale Regeln und kommunales Handeln umsetzen

Die allgemeinen Verhaltensweisen zur Bewältigung von Pandemien sind klar: Soziale
Kontakte meiden, Abstand halten, Masken sinnvoll und wissenschaftlich begründet nutzen,
Hygiene pflegen, Räume lüften, die Möglichkeiten der Informationstechnologie (Corona App
beispielsweise) kreativ einsetzen und sich bei Infektionen zurückziehen. Diese Punkte
definieren die global gültigen und immer schon wirksamen Regeln, die nun lokal mit
Handlungskompetenz erfüllt werden müssen. Dass die Freiheit im Westen zu einem Risiko
und die chinesische Unfreiheit zum Schutz wird, ist die wirkliche Herausforderung für die
Europäischen Länder. Demokratie braucht neue Ordnungskulturen von lokalem und
individuellem Handeln in sozialer Verantwortung. Diktaturen können die Menschen zwingen,
sie mit Gewalt führen und als Rädchen dem allmächtigen Staat unterordnen. Demokratie
muss die Handlungskompetenz des einzelnen in seinen sozialen Gemeinschaften stärken und
ausbauen, braucht Politiker, die mit Sinn und Werten führen und die bereit sind, den
Menschen auch zu vertrauen.

Die Corona Pandemie betrifft jetzt die europäischen Länder besonders hart und in allen
Staaten nehmen die aktuellen Schwierigkeiten zu. In den Niederlanden, Frankreich, Spanien
und Tschechien wirkt die Lage außer Kontrolle geraten. Die Weltgesundheitsorganisation
WHO ist beunruhigt über die Infektionszahlen in Europa. Die täglichen Neuinfektionen
ebenso wie die der Krankenhaus-Einweisungen steigen an. Die Lungenkrankheit Covid-19
stehe inzwischen an fünfter Stelle der Todesursachen, die Schwelle von 1.000 Todesfällen
täglich sei überschritten. Die Angst breitet sich europaweit aus und das Virus beeinträchtigt
nachhaltig und überall das soziale Leben. Österreich verschärft die Maßnahmen drastisch:
Obergrenzen von sechs Personen bei privaten Zusammenkünften in Gebäuden und von zwölf
Menschen im Freien. Das gilt auch für Yoga- und Tanzkurse, Geburtstagsfeiern, Hochzeiten
und Vereinstreffen. Solche Vorgaben zum lokalen Handeln sind nützlich, aber nicht mit
Gewalt durchzusetzen. Die dunkelrote Schwelle von 100 Infektionen auf 100.000 Menschen
in Bayern bedeutet 1 Infektion auf 1.000 Bürgerinnen und Bürger. Sollen Dörfer mit 2.000
Einwohnern abgeschottet werden, wenn 2 positive Messungen auftauchen oder ein
Ministerium mit 1.000 Mitarbeitern in den Lockdown geschickt werden, wenn die Leitung
Corona positiv ist?

Die Entwicklung der Infektionswellen mit dem Corona Virus erscheint jetzt noch
unberechenbarer und Gefühle der Hilflosigkeit und des Kotrollverlustes machen sich noch
mehr breit. Corona ist so beängstigend und auch verstörend, da das Virus die entwickelten
und reichen Staaten überrollt. Bisher waren solche Krankheiten das Problem der fremden
Länder und unsere entwickelte Medizin schützte uns wirksam gegen alle
Infektionskrankheiten. Diese existentielle Sicherheit ist plötzlich zerbrochen und der Tod
durch das Virus steht jetzt gefühlt vor der Tür. Sars-CoV-2 ist aber kein „Killervirus“ und es gibt viel bedeutsamere und gut vermeidbare Todesursachen in Europa, Amerika oder Asien.
Afrika kommt mit dem Corona Virus sogar relativ gut zurecht, nicht aber mit vielen anderen
Todesursachen, die wegen der Fokussierung auf die Corona Pandemie nun noch tödlicher
sind.

Die Lockdowns, Shutdowns und weitere Maßnahmen gegen die Covid-19 Krankheiten haben
die tödlichen Folgen der Corona Pandemie zweifelsohne minimiert. Ob die staatlichen
Interventionen und gesellschaftlichen Verhaltensweisen aber eine Über-, Fehl- oder Mangel-
Reaktion auf die Gefahren darstellen, ist nicht wirklich klar. Was im März noch richtig und
verständlich wirkte, ist jetzt mit den vorhandenen Kenntnissen höchst fragwürdig. Es braucht
eine neue Strategie, sagen viele Ärzte im Öffentlichen Gesundheitsdienst, renommierte
Wissenschaftler und nachdenkliche Politiker (https://www.monitorversorgungsforschung.
de/news/ad-hoc-stellungnahme-zur-ministerpraesidenten-konferenz).
Die wissenschaftlichen Analysen sind weiter widersprüchlich, manchmal interessengeleitet
und auch von öffentlichen Emotionen beeinflusst. Die Unterschiede von Land zu Land, global
wie national, sind groß und nicht schlüssig zu erklären. Es ist jedoch evident, dass komplexe
soziokulturelle Einflüsse wirksam sind und das Virus erst im Verhältnis zu Menschen und
Gesellschaften seine Gefährlichkeit entfaltet. Es lässt sich gut verstehen, dass Angst,
Unsicherheit und Hilflosigkeit die politischen Prozesse stärker steuern als rationales Wissen
und wissenschaftliche Erkenntnis. Virologen verstehen wie Viren funktionieren, sie sehen
aber nicht das ganze komplexe Leben. Nur zwei Strategien seien möglich, postulierte Markus
Söder in seiner Regierungserklärung am 21.10.2020: Durchseuchung oder Eindämmung,
Alles laufen lassen oder hart durchgreifen. Es gibt aber einen dritten Weg meine ich: die
Menschen werden befähigt und dabei unterstützt, das Leben mit dem Virus selbstständig zu
meistern und die Infektionsraten so gut es geht und möglichst wirksam zu minimieren. Das
Konzept setzt auf eine lernende Organisation mit einer lernenden Bürgerschaft, die
kontinuierlich Infektionsschutz, Freiheit der Lebensführung, psychosoziale wie ökonomische
Auswirkungen der Maßnahmen und die Würde der beteiligten Menschen subsidiär
ausbalanciert und in Lebenskultur umsetzt.


1.4 Es ist eine Herausforderung der Natur, aber keine Menschheitskatastrophe

Bald 50 Millionen gemessene Infektions- und 1,3 Millionen Todesfälle vermeldet die Johns
Hopkins University (JHU), die als weltweite Referenzplattform akzeptiert und überall genutzt
wird (https://coronavirus.jhu.edu/map.html). Die realistische Zahl infizierter Menschen dürfte
weit über 500 Millionen liegen. "Unsere derzeit besten Schätzungen ergeben, dass etwa zehn
Prozent der Weltbevölkerung bereits mit diesem Virus infiziert gewesen sein könnten", sagte
der WHO-Experte Mike Ryan am 5.10.2020 in Genf. Es wird bei der WHO mit mehr als 700
Millionen unerkannten Infektionen zusätzlich zu den nachgewiesenen Fällen gerechnet. Der
Anteil der bereits Infizierten schwankt dabei je nach Land, zwischen Stadt- und
Landbevölkerung und nach der Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen.

Corona ist also weltweit, in Europa und auch in Deutschland eine ernsthafte Bedrohung für
das Leben und die Gesundheit der Menschen. Das Sars-CoV-2 Virus ist da und es wird als
Krankheitserreger bleiben. Wir müssen mit ihm und mit an- und abschwellenden
Infektionszahlen auf lange Zeit leben. Eine Politik und Medizin, die beim Corona Virus eine
Fast-null-Risiko Strategie verfolgen und alle anderen Todesursachen als weniger bedeutend
ansehen, sind politische wie medizinische Hybris. Auch zwanzigtausend und noch mehr
täglich gemessene Infektionen können auf Deutschland zukommen und durchaus Todeszahlen
von 200 bis 400 Menschen pro Tag. Das fällt bei 2.600 Todesfällen täglich nicht aus dem
Rahmen eines normalen Sterbegeschehens. Über 400 Todesfälle an einem Tag kommen auch bei anderen Infektionskrankheiten mal vor. Darauf müssen wir uns alle einstellen.
Schutzmaßnahmen, die mit Beherbergungsverboten, Sperrstunden oder Alkoholverboten das
Unmögliche zu erreichen suchen, sind hilfloser Aktionismus zur Abwehr der eigenen
Ratlosigkeit. Pandemisch verlaufende Virusinfektionen verhalten sich immer vergleichbar
und die üblichen Abläufe sind durch die Pandemien der Vergangenheit epidemiologisch und
auch medizinisch bekannt.

Die zweite Welle ist oft heftiger als die erste und das trifft nun auch auf das Corona Virus zu.
Zur Bewältigung der Corona Pandemie und aller Pandemien, die zukünftig noch kommen
werden, müssen wir neue soziokulturelle, medizinische und technologische Fertigkeiten
herausbilden. Wie können wir mit den neuartigen und auch bekannten Gefahren realistisch
und gelassen umgehen? Corona ist eine Herausforderung der Natur, aber keine
Menschheitskatastrophe. Hysterische Reaktionsweisen sind ebenso wenig angemessen wie
die verharmlosende Leugnung. Beide Reaktionsmuster kommen aber bei Pandemien vor und
bringen das soziale Miteinander durcheinander. Nicht nur das Virus, auch die Reaktionen auf
den Erreger können Schäden anrichten, die bedrohlich sind und die Gesundheit der einzelnen
Menschen wie des gesellschaftlichen Lebens beeinträchtigen. Ein alter Grundsatz der
Seuchengeschichte bleibt gültig: die schädliche Wirkung der Kampfmaßnahmen gegen das
Virus dürfen nicht schlimmer sein, als die Wirkung des Krankheitserregers selbst. Die
politische Kommunikation der Risiken muss gesellschaftlich integrieren, Skeptiker wie
Verängstigte integrieren und eine mitfühlende Empathie aufbringen. Die Aggressivität und
Spaltungsprozesse im öffentlichen Leben machen Stress und schwächen die individuelle wie
die soziale Widerstandskraft gegenüber dem Virus. Die politische Führung sollte die
Gesundheitskompetenz der Menschen so stärken, dass sie in ihren Lebenswelten auf das
Virus selbst reagieren können.

Corona- ebenso wie Influenza- oder Noroviren und alle anderen Krankheitserreger oder
Todesursachen sind nicht einfach zu beseitigen. Mit ihnen zu leben, heißt auch, sie als
Möglichkeit des Sterbens im Rahmen von bekannten Todesrisiken zu akzeptieren. In Europa
nehmen die Neuinfektionen mit dem Sars-Cov-2 Virus von Land zu Land unterschiedlich,
teilweise dramatisch zu. Auch Deutschland erlebt hohe Infektionszahlen. Das Robert Koch
Institut (RKI) meldet am 22.10. schon 11. 287, am 5.11. dann 19.990 und am 6.11.2020 eine
neue Höchstzahl mit 21.506 neuen Corona-Fälle. Die schweren Verläufe der Covid-19
Krankheit und die dadurch verursachten Todesfälle steigen aber im Vergleich zum Zeitraum
März oder April 2020 nicht so gravierend an. Gegenwärtig meldet das RKI zwischen 100 und
200 tägliche Todesfälle durch Covid-19 Krankheiten. Das kann sich in den kommenden
Wochen verdoppeln oder verdreifachen. Der bisherige Höchstwert lag am 19.4.2020 bei 231.
Das Virus ist in der Bevölkerung inzwischen durchgehend verbreitet und überall können
plötzlich neue Ansteckungsschwerpunkte (Cluster) auftreten. Einzelne infizierte und
ansteckende Personen verursachen als sogenannte „Superspreader“ auch größere
Infektionscluster. Alle Treffen in großen, lauten, engen und räumlich beengten Gruppen sind
gefährlich. Viele Infektionsquellen sind jetzt diffus und die Gesundheitsämter können die
Kontaktverfolgung nicht mehr durchgehend sicherstellen. Das ist die Realität, mit der wir
sozial und medizinisch umgehen müssen. Die klassische Kontaktverfolgung bei allen
infizierten Menschen ist nicht mehr möglich. Es braucht einen Risikobezug zur wirklichen
Ansteckungslage und mehr Selbstmanagement bei den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern.
Das gelingt mit Informationen und Kompetenzvermittlung besser als durch Drohung,
Kriminalisierung oder Gewalt. Die zunehmende Radikalisierung der „Corona-Leugner“ und
„Maskenverweigerer“ sind ein Problem, dem durch offene Kommunikation, dialogische
Einbindung und Akzeptanz der skeptischen Fachleute präventiv begegnet werden sollte.


1.5 Politisches, wirtschaftliches und gesellschaftliches Umdenken steht an

Der Umgang mit den Gefahren von Pandemien gelingt dann am besten, wenn die einzelnen
Menschen individuell wie kollektiv ihre Verhaltensweisen entsprechend ausrichten und
selbstwirksam handeln können. Diese Kultur der selbstständigen Verantwortlichkeit erfordert
Wissen, Handlungskompetenzen und gegenseitige Rücksichtnahme. Autoritäre
Zwangsmaßnahmen und demonstrative Staatsgewalt erscheinen ebenso unsinnig wie die
aggressive Ignoranz der Sorglosen. Mit Angst, Strenge oder Schuldzuweisungen gelingt es
nicht, die richtigen Verhaltensweisen zu erzwingen. Unzufriedene Jugendliche sind mit
Bevormundung nicht zu erreichen und die Methoden einer Rohrstockpolitik sind so
weltfremd wie die der alten Rohrstockpädagogik.

Das Virus ist spürbar politisch und wird auch politisch funktionalisiert: es entlarvt
individuelle Selbstgerechtigkeit und Hilflosigkeit ebenso wie soziale Verwahrlosung und
egoistisches Gebaren. Die Mächtigen und Reichen werden genauso in Frage gestellt, wie die
Ohnmächtigen und Armen besonders betroffen sind. Unserer Welt steht politisch,
wirtschaftlich und moralisch vor einem grundlegenden Wandel. Die Natur schickt eine
Seuche, wenn sich die Gesellschaften neu ausrichten müssen. Die Corona Pandemie stellt
unsere Lebensweise auf den Prüfstand. Die Menschen spüren und wissen auch, dass die
Zerstörung der Natur und der Lebensräume in den Abgrund führt. Eine grundlegende
Neuorientierung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft wird weltweit schon länger von
jungen Menschen eingefordert. Sie wünschen sich Solidarität der älteren Bevölkerung mit den
ökologischen Zukunftsperspektiven der jungen Generation. Vertreibung und Flucht, Hunger
und Elend, Machtwahn und Geldgier oder mörderische Kriege werden nicht vom Corona
Virus gemacht.

„Global Citizen“ nennt sich eine globale Bürgerinnen- und Bürgerinitiative, die sich weltweit
für Bildung, Umweltschutz, Gesundheit, sauberes Wasser und sozialhygienische
Versorgungsstrukturen einsetzt (https://www.globalcitizen.org/). Die Verwirklichung aller 17
Ziele der Vereinten Nationen für eine nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development
Goals, SDGs) sind das umfassende Anliegen der weltweiten Vereinigung.

Die „Fridays for Future“ Bewegung bewegt die Jugend weltweit ebenso. Vier junge Frauen,
Greta Thunberg, Luisa Neubauer, Anuna de Wever und Adélaíde Charlier schrieben im Juli
2020 einen Brief an die Regierungschefs der EU und forderten ein neues Wirtschaftssystem.
125.000 Menschen, darunter viele Prominente, unterzeichneten das Schreiben. Über 26.000
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterstützen erklärtermaßen die Ziele der
Jugendbewegung auf Grundlage gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse: „Die derzeitigen
Maßnahmen zum Klima-, Arten-, Wald-, Meeres- und Bodenschutz reichen bei weitem nicht
aus.“

Papst Franziskus fordert in der aktuellen Enzyklika "Fratelli tutti" eine radikale
wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Wende als Antwort auf die Corona-Krise. Die
Pandemie fordere gemeinsames Handeln und den kollektiven Willen für ein Verhalten, das
mit der Natur und den Menschen würdig umgeht.

Die „Deutsche Allianz Klimawandel und Gesundheit e.V. (KLUG), ist ein wachsendes
Netzwerk von Personen, Organisationen und Verbänden aus dem Gesundheitswesen, das den
Klimaschutz als Teil der beruflichen Verantwortung versteht und aktiv im Gesundheitswesen
umsetzt. Ärztinnen und Ärzte übernehmen Führungsverantwortung für die sozialökologische
Transformation der Gesellschaft. KLUG (https://www.klimawandel10
gesundheit.de/arztpraxen/) und das von KLUG getragenen Aktionsforum Health for Future
(https://healthforfuture.de) treibt den Wandel im Gesundheitswesen voran.

Viele Menschen engagieren sich so für Einsicht in das Notwendige und Veränderungen im
weltweiten Zusammenleben. Der Mehrheit in der Bevölkerung und in der Wissenschaft ist
längst klar, dass sich Wirtschaft und Staat grundlegend verändern müssen. Das gibt auch
Hoffnung in den Corona Zeiten und Zuversicht in den Irren und Wirren der Verhältnisse, die
durch das Sars-CoV-2 Virus und die Covid-19 Krankheit in Bewegung gekommen sind. Jetzt
geht es um eine nüchterne, ehrliche und realistische Bestandsaufnahme und um die
Entwicklung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft so, dass das Überleben aller Menschen
auf dieser Erde gesichert und, was genau so wichtig ist, die Sterblichkeit als ein Teil des
Lebens verstanden und angenommen wird. Das Corona Virus mit einem Krieg besiegen zu
wollen, ist Illusion. Wir müssen mit seinen Gefahren leben und mit seinen Todesfällen wie
bei anderen Krankheitserregern gelassen umgehen.


1.6 Ein Weckruf für die freie Welt

Das Corona Virus wirkt als "Weckruf an die Menschheit“ und fordert eine Wirtschaft und
Politik ein, die mit Menschen und der Natur achtsam umgeht und Ehrfurcht vor dem Leben
zeigt. Corona ist „eine Prüfung unserer Menschlichkeit“. So sagt es Bundespräsident Frank-
Walter Steinmeier. Europa könnte Zeichen setzen und die Herausforderung anpacken. Die
Gesundheitswirtschaft muss dabei die Wunden heilen, die ein entfesselter Turbokapitalismus
schlägt und die Gesundheitswesen sind der Schlüssel für eine wirklich bessere Welt. Die
Gesundheitswirtschaft muss gegenüber rücksichtslosen Kapitalinteressen immun werden.

Die Corona Krise stellt angesichts der Klima Krise, der gesellschaftlichen Spaltungsprozesse,
der Armutskrankheiten, von Hunger und Elend oder von Kriegen und Flüchtlingsproblemen
eine überschaubare Herausforderung dar. Corona kann auch helfen, die Prioritäten neu zu
setzen und einen globalen Entwicklungsprozess zu beschleunigen. Die Pandemie ist schlimm,
aber nicht die schlimmste Bedrohung für Gesundheit und Leben in unserer Gegenwart und
Zukunft. Das allgemeine Sterben in Deutschland, in Europa und in der Welt wird durch
Corona tatsächlich wenig verändert. Die Einordnung der Corona Zahlen in das alltägliche
Sterben vermittelt uns eine realistische Wahrnehmung der Gefahren und hilft gegen Panik und
Mutlosigkeit gleichermaßen. Die politischen Reaktionen mit Ordnung, Zucht und Strafe oder
mit aggressiver, trotziger und selbstgerechter Demonstration setzen falsche Signale und
spalten die Menschen. Das macht auch die individuellen wie sozialen Immunsysteme
schwach.

„Gute Ökonomie für harte Zeiten“ lautet der Titel des Buches, das den Deutschen
Wirtschaftsbuchpreis 2020 erhalten hat. Die beiden Träger des Wirtschaftsnobelpreises 2019,
Esther Duflo und Abhijit V. Banerjee berichten, dass immer mehr Unternehmen ökologisch
korrekt, sozial verantwortungsbewusst und in einem guten Managementstil geführt werden.
Die „ESG-Kriterien“ (Environmental, Social and Corporate Governance) helfen bei der
Bekämpfung von Armut und sozialer Ungleichheit. Und es ginge auch um den Respekt vor
der Natur. In einem Interview zur Auszeichnung mit dem Wirtschaftspreis sagt Banerjee:
„Wir hoffen, wenn auch weniger als früher, dass uns dieser Moment der Pandemie dabei hilft,
zu verstehen, wie alle Dinge voneinander abhängen. Vielleicht kommt das nächste Virus aus
den USA, aber es wird auch Europa treffen, Australien und Indien und andere. Die Gründe
dafür liegen in der Umwelt. Wir müssen uns darüber klar sein, dass wir ein gemeinsames
Schicksal haben in dieser sehr fragilen Welt. Das wird hoffentlich unsere Art verändern, über
Politik zu denken. Wir hoffen, Europa übernimmt die Führung.“


1.7 Lebensrisiken, Lebewesen und Gesunde Gesellschaften

Drei Themenfelder sind in der weiteren Entwicklung bedeutsam: eine realistische
Risikobewertung und Risikokommunikation, eine neue medizinische Antwort auf Pandemien,
die auf salutogene Orientierung setzt und die Entwicklung gesunder Gemeinschaften und
gesunder Wirtschaftskulturen durchsetzt. Das ist Antwortsuche auf die Leitfrage: Was macht
Gesunde Gesellschaften aus?

Die weiteren Teile meiner Ausarbeitung analysieren, über die hier im Teil I geäußerten Ziele
und Anforderungen hinaus, die wirklichen Lebensrisiken der modernen Welt und zeigen, dass
die überbordende Angst vor dem neuartigen Virus verständlich, aber nicht realitätsbezogen
ist. Die tägliche Datenflut dramatisiert die Gefahren und produziert Unsicherheiten, wo
Gelassenheit nötig wäre. Wenn die Corona Pandemie mit dem realen Sterben in der Welt oder
in Deutschland in Bezug gesetzt wird, wird der allgegenwärtige Schrecken relativiert und
erträglicher. In Deutschland verursacht die Corona Pandemie etwa zwei Prozent der
jährlichen 950.000 Todesfälle. Unter dem Stichwort „Reinventing Politics“ entwerfe ich in
Teil II auch eine grundlegende Neuorientierung des gesellschaftlichen Gefüges und ein neues
Verhältnis zwischen Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Die Weisheit und
Lebenstüchtigkeit eines biologischen Organismus können uns zeigen, wie wir soziale
Organismen gestalten sollten. Es geht um neue, aber lebensnahe Organisationskulturen in
Staat, Wirtschaft und Gesellschaft.

Teil drei beschreibt, dass Viren zum Leben gehören, wie Pandemien kommen und gehen und
wie im Wechselverhältnis von Krankheitserregern und den Lebenswelten Gesundheit
verteidigt wird oder Krankheit entsteht: Das Virus ist nichts, der Mensch und seine
Lebenswelt sind alles. Corona lehrt uns eine neue Kultur des Überlebens und des gelingenden
Lebens. Es geht dabei auch um die Chancen der Digitalen Transformation und um eine
lebendige Demokratie mit Freiheit und bürgerschaftlicher Autonomie: Selbstorganisation,
dienende Führung, Sinn und Werte als Handlungsmaxime sind mögliche und begehbare
Wege. Das individuelle und das soziale Leben gehören zusammen und gesunde Menschen
brauchen auch eine gesunde Erde. Die ganze Erde ist ein lebendiger Organismus, der aus
ähnlichen Bestandteilen wie der menschliche Körper aufgebaut und zur Selbstregulation fähig
ist. Die Erkenntnisse aus der Gaia-Theorie der Mikrobiologin Lynn Margulis und des
Chemikers, Biophysikers und Mediziners James Lovelock sehen vergleichbare
Lebensprinzipien, die beim menschlichen oder biologischen Organismus und beim Leben der
Erde gültig sind. Jetzt sollten auch die sozialen Organisationen, Unternehmen und Betriebe
ihre Organisationsweisen an lebendigen Prozessen orientieren. Frederic Laloux beschreibt das
in seinem Bestseller „Reinventing Organizations“ (Laloux 2016).

Die sozialökologischen und politischen Schlussfolgerungen aus der Corona Pandemie zieht
dann Teil vier. Wie können wir die „Prüfung unserer Menschlichkeit“ bestehen und welche
Perspektiven eröffnen sich für das Gesundheitswesen? Zwischen Ethik und Profit muss die
Gesundheitswirtschaft ihren eigenen Weg finden, sozusagen als Heilmittel gegen den
Wachstumswahn und die geldgesteuerte Habsucht der kapitalistischen Wirtschaftskultur. Die
Perspektiven einer Gemeinwohlökonomie und einer Gesunden Marktwirtschaft formulieren
dazu eine „realistische Utopie“ oder eine machbare Mission: die Corona Krise als Chance für
Verhältnisse, die das individuelle und gesellschaftliche Gesundheitspotential optimal entfalten
und eine Medizin, die der Gesundheit des einzelnen Menschen und der gesamten Gesellschaft
wirklich dient. Der Sinn des Wirtschaftens in unserer Gesellschaft ist der Nutzen für die
Menschen und die Sicherstellung eines guten Lebens. Konsumzwang, Protzereien, Schönheitschirurgie oder Statussymbole sind dem nicht förderlich. Die Erfüllung sozialer
Bedürfnisse und die persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten sind für ein gelingendes Leben
wichtiger. Die Bewältigung der ökologischen Krise braucht mehr soziale Entwicklungen und
weniger technische Innovationen, persönliches, nicht materielles Wachstum, die Orientierung
an gesellschaftlichen und menschlichen Werten und keine Vergötterung von Geld und Besitz.
Das Corona Virus markiert eine Zeitenwende. Die 17 Nachhaltigkeitsziele (Sustainable
Development Goals – SDGs) der Vereinten Nationen, die weltweit eine nachhaltige
Entwicklung auf ökonomischer, sozialer und ökologischer Ebene anstreben und die allesamt
einen Bezug zum Thema Gesundheit haben, formulieren eindrücklich, wohin wir alle streben
müssen. Und: es gibt ein Vorbild für Regierungshandeln, das mit dienender Macht regiert und
die Menschen einbindet. Autoritäre oder autoritative Politik ist ein falscher Weg. Die
Beteiligung der Menschen, vertrauensbasierte Gesellschaft und lernende Gemeinschaften sind
die Alternative. Die finnische Regierung zeigt dies eindrücklich und überzeugend:
https://twitter.com/FinGovernment/status/1319582170499993600.

„Die Corona-Krise ist nur ein Glied in einer Reihe von Ereignissen, die sich fortsetzen wird.
Sie ist die Chance, endlich aufzuwachen, wenn wir ihre Botschaft richtig lesen“, schreibt der
Psychoneuroimmunologe und Psychiater Joachim Bauer in seinem neuesten Buch: „Wir sind
aufgerufen, uns in unserer inneren Haltung und mit unserem Verhalten gegenüber der Natur
neu aufzustellen. Die Natur ist für den Menschen nicht nur ein Lebensraum, sie kann ihm als
eine gewaltige medizinische und soziale Ressource dienen. Menschliche Gesundheit, gutes
menschliches Zusammenleben und die Bewahrung der Natur stehen in einem
Dreiecksverhältnis der Gegenseitigkeit. Die Lebensweise jedes Einzelnen ist für die
Menschheit als Ganzes von Belang“ (Bauer 2020).
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