Im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Ländern und den USA ist die Altersmedizin in Deutschland eine noch recht junge Wissenschaft. In den letzten 25 Jahren allerdings ist ihre Beachtung und Wertschätzung enorm gestiegen - was nicht zuletzt auch ein Verdienst der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie (DGG) ist, die in diesem Jahr ihr 25-jähriges Bestehen feiert - ein Grund für einen Blick zurück, aber auch, um neue Akzente für die Zukunft zu setzen.
In Deutschland leben heute etwa 82 Millionen Menschen, 2060 werden es voraussichtlich nur noch 65 bis 70 Millionen sein. Daneben kommt es zu erheblichen Veränderungen in der Altersstruktur: Sind heute 20 Prozent der Bevölkerung 65 Jahre oder älter, wird bereits in den kommenden beiden Jahrzehnten der Anteil älterer Menschen deutlich steigen. Der demografische Wandel war aber bereits Anfang der 80er-Jahre ein topaktuelles Thema - und auch die Frage danach, wie Menschen im letzten Viertel ihrer Lebensspanne leben werden und wie sie versorgt werden. 1983 hielt Prof. Dr. Manfred Bergener in seinem Aufsatz "Geriatrie - eine fehlende Disziplin?" fest: "Ungeachtet dieser Tatsachen aber ist die Altersmedizin (Geriatrie) bis heute eine weitgehend fehlende Disziplin. Vielfältige gerontologische und geriatrische Informationsangebote können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die geriatrische Wissensvermittlung unzulänglich geblieben ist. Ebenso wenig kann die in den letzten Jahren ständig gewachsene Zahl wissenschaftlicher Symposien über Themen der Geriatrie darüber hinwegtäuschen, dass gerade auch die Bundesrepublik, wie die Mehrzahl aller Länder mit überalterter Bevölkerung, auf diesen Gebieten ein Entwicklungsland geblieben ist."
Aus Vielfalt heraus eigenständiges Profil für die Altersmedizin schaffen
Zwei Jahre später trugen Prof. Dr. Manfred Bergener und Prof. Dr. Ingo Füsgen in Köln die Deutsche Gesellschaft für Geriatrie als berufsständische Vereinigung für Mediziner ein: "Im Gegensatz zur Gerontologie, die sich mit Altersvorgängen in all ihren Aspekten befasst - darunter psychische, soziale, wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche -, ist die ganzheitliche Behandlung des hochbetagten Patienten das Charakteristikum der geriatrischen Medizin. Mit der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie haben wir aus dieser Vielfalt ein eigenständiges Profil für die Altersmedizin geschaffen. Damals wie heute sind die Förderung und Koordination von Forschung, Praxis und Lehre in der Geriatrie sowie die Entwicklung und Verbreitung neuer Konzepte und Strategien unsere wichtigsten Aufgaben und Ziele", erklärt DGG-Gründungsmitglied Prof. Dr. Ingo Füsgen, Chefarzt der 3. Medizinischen Klinik der Kliniken St. Antonius Velbert-Neviges, der 1990 an den Lehrstuhl für Geriatrie der Universität Witten/Herdecke berufen wurde.
Die Entwicklung der Geriatrie in Deutschland ist seitdem untrennbar mit der DGG verbunden, sie hat sich zu einem wichtigen Gesprächspartner für die Gesundheitspolitik entwickelt, wenn es um die Weiterentwicklung der medizinischen Versorgung alter Menschen geht: Mit circa 1.700 ordentlichen, korrespondierenden, fördernden und Ehrenmitgliedern ist sie heute die größte unter denjenigen Fachgesellschaften in Deutschland, die sich mit der Medizin der späten Lebensphase beschäftigen. Besonderen Raum haben in der Arbeit der vergangenen 25 Jahre Fragen der ärztlichen Aus- und Weiterbildung eingenommen. Mehrere Arbeitsgruppen beschäftigen sich sehr erfolgreich mit grundlegenden Fragestellungen des Alters - das Spektrum reicht dabei von der ambulanten Geriatrie über Demenz, Dermatologie, Diabetes und Ernährung bis hin zu Kardiologie, Infektiologie, Inkontinenz, Notfall- und Intensivmedizin, Rheumatologie, Schlaganfall, Schmerz und Schwerhörigkeit. Ein besonderes Anliegen der DGG ist die Wissensvermittlung neuer Erkenntnisse der Geriatrie. Diesem Ziel dient die Organisation sowohl nationaler und internationaler wissenschaftlicher Kongresse als auch regionaler Fortbildungsveranstaltungen und Weiterqualifizierungen.
Sensibilisierung für altersmedizinische Fragen
Um junge Ärzte für altersmedizinische Fragen zu sensibilisieren und das geriatrische Engagement zu unterstützen, werden durch die DGG regelmäßig Stipendien und Förderpreise ausgeschrieben: Mit dem Förderpreis der Rolf- und Hubertine-Schiffbauer-Stiftung werden beispielsweise herausragende Arbeiten im Bereich der Altersforschung prämiert. Die Arbeitsgruppe "Geriatrische Onkologie" der DGG und der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie (DGHO) haben für das Jahr 2010 den Förderpreis "Geriatrische Onkologie" ausgeschrieben. Dieser wird für eine herausragende wissenschaftliche Publikation oder ein Forschungsprojekt aus dem Bereich der geriatrischen Onkologie (Diagnostik, Therapie, Gesundheitsförderung, Prävention, Rehabilitation) vergeben. Mit dem Preis sollen insbesondere jüngere forschende Mediziner in der Geriatrie und Onkologie angesprochen werden.
In den Jahren 1997 und 1998 beschlossen Vorstand und Mitglieder der DGG, mit der forschenden Industrie und hier insbesondere der Industrie, die in ihrem Bereich Schwerpunkte in der Geriatrie sieht, zusammenzuarbeiten. Als Ausdruck dieser Zusammenarbeit wurde die Mitgliederzeitschrift "Geriatrie News" gegründet, die zur Hälfte den beteiligten Förderkreisfirmen mit ihren geriatrischen Aktivitäten und zur anderen Hälfte den Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie zur Verfügung steht. "Ohne wissenschaftliche Publikationen ist es schwer, Ideen zu verbreiten. Deshalb haben wir von Anfang an großen Wert auf wissenschaftliche Publikationen und Fachzeitschriften gelegt. Mit unseren Medien ?European Journal of Geriatrics", ?Geriatrie News" und ?Geriatrie Journal" erreicht die DGG eine große Zahl von Ärzten - das hat sehr geholfen, den Stellenwert der Geriatrie auf- und umzubauen", so Prof. Dr. Ingo Füsgen.
Zukünftige Ausrichtung: Demenzforschung und Nachwuchsförderung
"Wenn wir uns heute fragen, wo wir stehen, können wir mit Fug und Recht sagen, dass bereits viel erreicht wurde", zieht Privatdozent Dr. Werner Hofmann, ärztlicher Leiter der Geriatrischen Klinik und Tagesklinik Neumünster, Bilanz, "doch noch ist lange nicht alles gelungen, was sich unsere Gesellschaft zum Ziel gesetzt hat." Dr. Hofmann, der ab September 2010 für die folgenden zwei Jahre als Präsident die Arbeit der DGG aktiv gestalten wird, sieht einen zukünftigen Schwerpunkt im Bereich Demenzforschung und in der Entwicklung neuer Versorgungskonzepte. Denn: "Über eine Million Menschen in Deutschland sind an Demenz erkrankt und bis zum Jahr 2030 wird ihre Anzahl vermutlich um die Hälfte gestiegen sein. Sie brauchen eine vernünftige Frühdiagnostik, eine optimale interdisziplinäre Versorgung mit Therapien und Medikamenten sowie geeignete Unterbringungen, in denen sie möglichst lange sozial integriert sind und selbstständig agieren können."
Ein zweites großes Anliegen der DGG ist es, die Nachwuchsförderung zu verbessern, denn in Zeiten von Anti-Aging und der Negativierung des Alters ist es nach wie vor schwer, Mitarbeiter zu finden, die bereit sind, eine geriatrische Laufbahn einzuschlagen und in diesem Bereich Verantwortung zu übernehmen. "Deutschland hängt im Vergleich zu anderen Ländern weit zurück: Hier existieren an den Universitäten sechs Lehrstühle für Geriatrie, in Italien sind es rund 60. Und es gibt in Deutschland keinen Facharzt für Geriatrie, sondern nur eine entsprechende Weiterbildung", erklärt Prof. Dr. Ralf-Joachim Schulz, Leiter der Klinik für Geriatrie am St.-Marien-Hospital in Köln und Professor für Geriatrie an der Universität Köln, "dabei sollte man speziell ausgebildet sein, um die Zusammenhänge zu verstehen. Ein Geriater muss ganzheitlicher denken, als sich nur auf ein Problem mit einem kranken Organ zu konzentrieren. Bei ihm laufen alle Fäden zusammen - er hat den Überblick über verschriebene Medikamente und beurteilt mögliche Wechselwirkungen. Er weiß um die Auswirkung von Erkrankungen und altersbedingten Gebrechen auf die Psyche und bindet die Angehörigen in die Behandlung ein. In der geriatrischen Aus- und Weiterbildung haben wir noch ein enormes Entwicklungspotenzial, das wir in den nächsten Jahren ausschöpfen müssen."