Obwohl alle Menschen Vitamine und Mineralstoffe benötigen, herrscht bei vielen Menschen mehr Verunsicherung als Aufklärung, beklagte Ernährungsexperte Sven-David Müller, M.Sc., bei einer Veranstaltung in Wien. Sind Vitamine sogar gefährlich und was sagt die Wissenschaft zu den vielen Vitamine-Märchen und Vitamin-Mythen? Die Verwirrung begann schon vor fast 100 Jahren: Bereits bei der Namensgebung der essentiellen Mikronährstoffe begann der Biochemiker Casimir Funk 1912 einen Fehler: Das Wort Vitamine ist ein falsch gewählter Kunstbegriff aus Vita für das Leben und amin für stickstoffhaltig. Für das erste "Vit-Amin" Thiamin (B1) mag diese Bezeichnung noch zutreffend sein, aber für viele andere "Vit-Amine" wie beispielsweise Retinol oder Askorbinsäure ist sie schlicht und ergreifend falsch, da es sich nicht um Amine handelt, so Sven-David Müller, der sich seit Jahren mit Ernährungsmärchen und Diätlügen befasst. Er hat die Bücher "Moderne Ernährungsmärchen" sowie "Die dicksten Diätlügen" herausgebracht. Nachfolgend klärt Sven-David Müller Mythen rund um die Ernährung und die Vitaminversorgung auf.
1. Ernährungsmärchen: Unsere Ernährung ist gut.
Die Menschen in Österreich ernähren sich momentan anders, als sie sollten. Übergewicht (40 bis 50 Prozent der Frauen und 50 bis 60 Prozent der Männer sind zu dick), Untergewicht, ernährungs(mit)bedingte Krankheiten wie erhöhte Cholesterinwerte sowie eine suboptimale Mikronährstoffversorgung (trotz Überernährung), die zu gesundheitlichen Folgen führt, resultieren daraus. Alle Menschen sollten nach dem Hippokrates-Motto "Lasst Eure Nahrung Eure Medizin und Eure Medizin Eure Nahrung sein" gesünder und besser leben. Die durchschnittliche Mikronährstoffzufuhr ist suboptimal und das muss geändert werden.
2. Ernährungsmärchen: In westlichen Ländern gibt es keinen Vitaminmangel.
Es ist eine Mär, dass die Vitamin- und Mineralstoffversorgung in Österreich und den anderen deutschsprachigen Ländern optimal ist. Die Fachorganisationen - von ÖGE über DGE bis zu den Berufsverbänden - weisen auf suboptimale Versorgungszustände bei Risikogruppen hin. Risikogruppen klingt so, als wäre kaum jemand davon betroffen. Das Gegenteil ist der Fall: Die größten Anteile der Bevölkerung sind in einer oder sogar mehreren Risikogruppen zu finden, den Senioren, chronisch kranke Menschen, Heranwachsende, Schwangere, Stillende, Magere und auch Rekonvaleszente gehören dazu. Die Anzahl der Menschen, die nicht zur Risikogruppe gehört, ist damit gering. Diese Situation wird noch durch Erkrankungen wie Fruchtzucker- und Milchzucker-unverträglichkeit, die Hinwendung zum Vegetarismus sowie das Einhalten von Fastenkuren und anderen Crashdiäten verstärkt. Wir leben in einem Vitamindilemma, das weiter durch die Einnahme von Medikamenten wie der Antibabypille aber auch durch den regelmäßigen Konsum von Alkoholika und Zigaretten verstärkt wird, betont Sven-David Müller.
Die DACH-Referenzwerte werden von der Bevölkerung nicht für alle Mikronährstoffe erreicht. Die Versorgung mit Folsäure, Jod, Fluorid, Vitamin D, Thiamin und Eisen (gilt für gebärfähige Frauen) ist in vielen Altersgruppen nur noch als erbärmlich und gesundheitsschädlich zu bezeichnen. Die Erkrankungen und Störungen, die auch auf unsere schlechte Mikronährstoffversorgung zurückzuführen sind, reichen von Konzentrationsstörungen, Müdigkeit, brüchige Fingernägel, splissige Haare, Osteoporose, Karies bis zu Diabetes mellitus, Schilddrüsenfunktionsstörungen und Fehlgeburten. Viele Mediziner sprechen sich gegen die Einnahme von Vitaminen und Mineralstoffen aus, setzen diese jedoch leitliniengemäß bei Osteoporose, Schilddrüsenfunktionsstörungen, Anämie oder in der Schwangerschaft und Stillzeit mit Erfolg ein. Scheinbar herrscht ein ambivalentes Verhältnis zu Vitaminen und Mineralstoffen. In der klassischen Diätsaison, die von Mangelernährung gekennzeichnet ist, bedürfen viele Menschen der Verabreichung von Mikronährstoffen. Bei einer Fastentherapie keine Vitamine und Mineralstoffe zu substituieren, ist ein Kunstfehler.
3. Ernährungsmärchen: Die Mikronährstoffzufuhr im Rahmen der DACH-Referenzwerte ist ausreichend.
Für gesunde Menschen mag das gelten - aber die DACH-Referenzwerte gelten nur für Gesunde und nicht für Kranke. Für Kranke ist mit einem zusätzlichen Bedarf zu rechnen. Praktisch jeder Mensch gehört zu einer der vielen von der ÖGE beschriebenen Risikogruppen für eine unzureichende Vitamin- und Mineralstoffzufuhr und bedarf gegebenenfalls auch der Substituierung.
4. Ernährungsmärchen: Wir nehmen ausreichend Vitamine und Mineralstoffe auf.
Falsch: Studien beweisen, dass die Zufuhr von Jod, Fluorid, Kalzium, Eisen (Frauen), Magnesium, Mangan und sogar Phosphat in einigen Altersgruppen unzureichend ist. Auch die Vitaminzufuhr ist unzureichend bei Folsäure, Biotin, Pantothensäure, Vitamin D und E sowie Thiamin. Vitamin C wird am häufigsten dosiert, hier liegt jedoch in allen Alters- und Geschlechtsgruppen keine suboptimale, sondern eine optimale Zufuhr vor. Eine suboptimale Zufuhr führt zwar nicht zu Skorbut, Beriberi, Rachitis oder Pellagra, ist aber mit mannigfaltigen Fehlfunktionen verbunden.
5. Ernährungsmärchen: Gemüse und Obst sind die wichtigsten Vitamin-Lieferanten.
Falsch: Fleisch, Fisch, Nüsse und Öle sowie Milchprodukte und Eier sind für die Zufuhr bestimmter Vitamine viel wichtiger.
6. Ernährungsmärchen: Nur frisches Gemüse ist optimal für die Vitaminbedarfsdeckung, denn im Tiefkühlprodukt und in Dosen-Varianten steckt nichts mehr. Im Gegenteil durch die optimale Konservierung werden wasserlösliche Vitamine bewahrt und durch die physikalischen Veränderungen verbessert sich die Resorptionsquote entscheidend. Zusätzlich ist frisch niemals so frisch wie vermutet und nur in Tiefkühl- und Dosenprodukten landen wirklich reife Früchte.
7. Ernährungsmärchen: Kopfsalat ist gesund.
Falsch: Kopfsalat setzt sich ähnlich zusammen wie ein Papiertaschentuch, bei dem Zellulose überwiegt. Aber der Kopfsalat ist oft auch noch eine Nitratbombe und führt bei einer Portion durch Soßenreichtum oft zu einer fett- und kalorienreichen Ernährungsweise, die Übergewicht zur Folge hat. Wer ballaststoffreiche Salate essen möchte, sollte besser auf Kohlsalate, Karotten, Paprika, Pilze oder Hülsenfrüchte zurückgreifen.
8. Ernährungsmärchen: Nur wer einen Stich Butter zu den Karotten gibt, kann die enthaltenen fettlöslichen Vitamine/Provitamine resorbieren. Durch regelmäßige Mahlzeiten sind im Gastrointestinaltrakt immer ausreichend Lipide vorhanden, die eine Resorption von fettlöslichen Vitaminen gewährleisten. Nur nach mehrtägigem Fasten oder künstlicher Ernährung über das Blut-Gefäß-System ist das nicht der Fall. Eine gemischte Mahlzeit muss nicht zusätzlich mit Fett angereichert werden.
9. Ernährungsmärchen: Vitamine sind gefährlich.
Immer wieder wird kolportiert, dass Vitamine gefährlich seien. Dass Vitamine aber vielmehr lebenswichtig sind, ist wissenschaftlich unbestritten. In der Berichterstattung wird die Publikation von Studien falsch verstanden. In der Regel geht es in negativ verlaufenden Vitamin-Studien um unphysiologisch hohe Dosierungen von Einzelsubstanzen. Im Rahmen unserer Evolution gab es aber keine Megadosierungen von Einzelvitaminen und gerade oxidations-empfindliche Mikronährstoffe brauchen ein komplexes Umfeld. Aus einer Einzelstudie mit hochdosierten Vitaminen eine Warnung vor Vitaminen und Mineralstoffen allgemein abzuleiten, ist unwissenschaftlich und einer sinnvollen Berichterstattung nicht zuträglich. Klar ist: Ohne Vitamine ist kein Leben möglich. Nur das Vitamin D kann unter bestimmten Voraussetzungen auch ohne Nahrungszufuhr vom menschlichen Organismus aufgebaut werden. Aber gerade beim Vitamin D gibt es durch den "vermummten" Lebensstil Probleme.
10. Ernährungsmärchen: Nahrungsergänzungsmittel können zu gefährlichen Überdosierungen führen. Falsch: Die Dosierung ist so gewählt, dass eine Überdosierung bei Einhaltung der Verzehrshinweise ausgeschlossen ist. Bei der Vitamin-Negativ-Berichterstattung wird oft auf Studien verwiesen, die einzelne Vitamine in hoher Dosierung zugeführt haben und vor diesem Hintergrund ohnehin unphysiologisch sind. Studien mit niedrig dosierten Multivitamin-Mineralstoffpräparaten, die zu negativen gesundheitlichen Ereignissen geführt haben, sind hingegen nicht bekannt.
11. Ernährungsmärchen: Nahrungsergänzungsmittel können eine gesunde Ernährungsweise ersetzen.
Falsch: Eine Nahrungsergänzung kann eine gesundheitsbewusste Ernährungs- und Lebensweise optimieren.
12. Ernährungsmärchen: Das Ei ist ungesund und führt zum Herzinfarkt.
Falsch: Das Ei gehört zu den vollwertigsten Lebensmitteln überhaupt und keine Studie konnte je beweisen, dass das Hühnerei-Cholesterin das Herz-Gefäß-Risiko erhöht. Im Gegenteil das Lecithin im Eidotter senkt den Cholesterinspiegel und das Fettsäuremuster von Hühnereiern erinnert sehr an das von Diätmargarine. Ein dioxinfreies Frühstücksei macht satt, verbessert die Mikronährstoffzufuhr und ist durch und durch gesund.
13. Ernährungsmärchen: Ein erhöhter Cholesterinspiegel ist nicht gefährlich:
Falsch: Es ist eindeutig wissenschaftlich gesichert, dass ein erhöhtes LDL bei niedrigem HDL das Arterioskleroserisiko erhöht.
14. Ernährungsmärchen: Den erhöhten Cholesterinspiegel kann man nur durch Medikamente (Lipidsenker) reduzieren. Falsch: Durch Ernährungsmaßnahmen lassen sich 2/3 der Lipidsenker einsparen. Ein Gesamtcholesterin bis 300 mg/dl lässt sich allein durch Lifestyle-Modifikation beherrschen. Dazu gehört auch eine optimale Vitaminzufuhr, um die Oxidierung von LDL zu vermeiden.
15. Ernährungsmärchen: Omega-3-Fettsäuren senken das Cholesterin.
Falsch: Fischöle und hochungesättigte Fettsäuren aus Algen senken in erster Linie die Triglyzeride.
16. Ernährungsmärchen: Diätmargarine ist kalorienarm.
Falsch: Diätmargarine hat genauso viele Kalorien wie Butter. Durch ihren hohen Gehalt mehrfach ungesättigter Fettsäuren und ihren niedrigen Gehalt gesättigter Fettsäuen sowie ihre Transfettsäurefreiheit senkt Diätmargarine im Rahmen einer gesunden Ernährungs- und Lebensweise die Blutfettwerte.
17. Ernährungsmärchen: Nüsse sind dick machende Kalorienbomben:
Falsch: Durch das optimale Fettsäuremuster tragen Nüsse nicht nur zur Senkung der Blutfette, sondern auch zur Gewichtsoptimierung bei. Der cholesterinspiegelsenkende Effekt ist auch auf Pflanzensterine (Pflanzensterine - siehe Exkurs untenstehend) zurückzuführen.
Sekundäre Pflanzenstoffe - die Pflanzensterine - senken den Cholesterinspiegel
Die pharmazeutische Industrie setzt seit Jahrzehnten auch auf Pflanzensterine, wenn es um die Senkung des Cholesterinspiegels geht. Inzwischen gibt es immer mehr Lebensmittel und Nahrungsergänzungsmittel, die Pflanzensterine enthalten. Laut Definition sind sekundäre Pflanzenstoffe natürliche Inhaltsstoffe insbesondere von Frischobst, Gemüse, Kräutern, Gewürzen, Hülsenfrüchten, Samen, Nüssen und Getreide. Sie liefern keine Energie, sondern verleihen Aroma, Duft und Farbe. Sie schützen die Pflanze vor schädigenden Umwelteinflüssen - und sie haben gesundheitsförderliche Eigenschaften für den Menschen. Es gibt neun Gruppen von sekundären Pflanzenstoffen - unter ihnen sind die cholesterinspiegelsenkenden Pflanzensterine hervorzuheben.
Pflanzensterine schützen Herz und Gefäße
Pflanzensterine sind in ihrer chemischen Struktur dem Cholesterin sehr ähnlich. Dadurch hemmen sie die Aufnahme von Cholesterin (sowohl dem Nahrungscholesterin als auch dem Cholesterin der Gallensäuren) im Darm und fördern die Ausscheidung des Cholesterins mit dem Stuhlgang - als Folge davon sinkt das Gesamt- und LDL-Cholesterin deutlich, nicht jedoch das schützende HDL-Cholesterin. In Studien zeigt sich eine Senkung des LDL um 10 bis 15 Prozent. In geringen Mengen kommen sie natürlicherweise in fettreichen pflanzlichen Nahrungsmitteln wie Nüssen, Hülsenfrüchten, Sonnenblumenkernen, Sojabohnen sowie Sesamsamen vor. Es gibt eine Reihe von Aufstrichfetten oder Drinks, die mit Pflanzensterinen angereichert sind.
Bei durchschnittlicher Ernährung werden 0,2 bis 0,4 Gramm täglich aufgenommen. Um einen ausreichenden Effekt auf den LDL-Wert zu erzielen, ist eine tägliche Zufuhr von 1,5 bis 2,0 Gramm notwendig. Dies entspricht beispielsweise einer Menge von 20 bis 25 Gramm Spezialfetten oder der Zufuhr eines Fläschchens eines pflanzensterinhaltigen Milchproduktes. Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, dass Milchprodukte für viele Menschen schlecht verträglich sind oder sie mit allergischen Reaktionen darauf reagieren. Mit einer relativ großen Spezialfettmenge wiederum vergrößert sich das Energiebilanzproblem und Übergewicht bleibt erhalten oder könnte entstehen.
Linktipps zu Ernährungsmärchen:
www.svendavidmueller.de
www.dge.de
www.dkgd.de
Buchtipps von Sven-David Müller:
Die dicksten Diätlügen, Schlütersche Verlagsgesellschaft
Moderne Ernährungsmärchen, Schlütersche Verlagsgesellschaft
Die 50 besten und die 50 gefährlichsten Lebensmittel, Schlütersche Verlagsgesellschaft
Die 100 besten Krebskiller, Kneipp Verlag
Literatur
Casimir Funk, The etiology of the deficiency diseases. Beri-beri, polyneuritis in birds, epidemic deopsy, scurvy, experimental scurvy in animals, infantile scurvy, ship beri-beri, pellagra in Journal of State Medicine, XX 1912, S. 341-368
http://jn.nutrition.org/content/102/9/1105.full.pdf
Veröffentlichungen von Casimir Funk bei der Deutschen Nationalbibliothek:
https://portal.d-nb.de/opac.htm?query=Woe%3D124997074&method=simpleSearch
http://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJM199404143301501