Sie hat schon viele Traumrollen aus Operette und Musical interpretiert, jetzt bereitet Patricia Nessy eine neue vor: Beim Wiener Operettensommer im Schlosspark Theresianum wird sie die Sylva Varescu in Emmerich Kálmáns „Die Csárdásfürstin“ singen und spielen. Als künstlerische Leiterin des Wiener Operettensommers wandelt sie nun bereits zum zweiten Mal auf den Spuren von Mizzi Günther, der legendären Erstinterpretin zahlreicher Operetten von Franz Lehár und Emmerich Kálmán. 1905 hatte diese die Hanna Glawari in der Lustigen Witwe am Theater an der Wien kreiert und zehn Jahre später, im Weltkriegsjahr 1915, die Sylva Varescu in der Uraufführung der Csárdásfürstin am Johann Strauß-Theater gesungen. Beide Rollen gehören nunmehr auch zum Repertoire von Patricia Nessy, die damit am Ziel ihrer künstlerischen Wünsche angelangt ist.
Für die Bühne geboren
Sie ist als echtes Theaterkind aufgewachsen und wollte, so lange sie sich zurück erinnern kann, nie etwas anderes als auf die Bühne. Patricia Nessy kam als Tochter eines Wieners und einer Schweizerin im rheinländischen Trier auf die Welt. Ihre Eltern, beide Opernsänger, waren dort gerade im Engagement. Während die Karriere der Mutter an die Staatsoper Stuttgart führte, zog sich der Vater bald aus der aktiven Laufbahn zurück, wurde jedoch für die musikalische Grundausbildung seiner Kinder, die heute alle im Theater- und Musikbereich tätig sind, prägend. Gesang, Tanz und Schauspiel waren für Patricia Nessy von Anfang an gleichrangig, weshalb sie nach der Matura auch nach Wien ging, um sich am Konservatorium zur Operetten- und Musicaldarstellerin ausbilden zu lassen. Über die Stadttheater Regensburg und Kaiserslautern kam sie bald an renommierte Hauser wie die Staatsoperette Dresden, das Berliner Theater des Westens und das Theater an der Wien, wo sie die Elisabeth im gleichnamigen Musical von Michael Kunze und Sylvester Levay sang. Die Grazer Oper, die Stadttheater Augsburg, Klagenfurt, Baden und Sankt Pölten sowie die Musicalfestivals Amstetten und Bruck an der Leitha waren weitere wichtige Stationen ihrer Karriere, die ihr unter anderem Hauptrollen in MacDermots „Hair“, Stynes „Funny Girl“, Loewes „My Fair Lady“, Porters „Kiss me Kate“ und Monnots „Irma la Douce“ bescherte.
Von starken Frauen fasziniert
Einer Eliza Doolittle – mit der sie als Partnerin von Miguel Herz-Kestranek in der Rolle des Henry Higgins große Erfolge feierte – oder einer Valencienne fühlt sie sich mittlerweile entwachsen. Heute ist Patricia Nessy von starken Frauen fasziniert, die wissen, was sie wollen, und die unbeirrbar ihren Weg gehen. Die Nachtclubsängerin Sally Bowles in Kanders „Cabaret“ oder die Titelrolle in Webbers „Evita“ haben bereits in diese Richtung gewiesen. Mit Dostals Clivia, Linckes Frau Luna und Kálmáns Bajadere ist Patricia Nessy inzwischen auch im Fach der Operettendiva angekommen, in dem sich ihr neue Dimensionen an stimmlicher und darstellerischer Ausdruckskraft eröffnet haben. Die Hanna Glawari, die sie im Vorjahr beim Wiener Operettensommer interpretiert hat, und die Sylva Varescu, die sie im Rahmen des heurigen Festivals singen, tanzen und spielen wird, bezeichnet sie als Meilensteine in ihrer künstlerischen Laufbahn.
Schicksalsgeschichte am Vorabend des Ersten Weltkriegs
Es ist aber nicht nur ihre Rolle als Varietésängerin Sylva Varescu, die Patricia Nessy ins Schwärmen geraten lässt, sondern das ganze Stück, das sie begeistert. Mit der Csárdásfürstin seien Kálmán und seine Librettisten Leo Stein und Béla Jenbach auch dramaturgisch neue Wege in der Operette gegangen. Die Autoren hatten keine Flucht in eine heile Welt im Sinn, wie man es dem Genre insgesamt oft vorwirft, sondern brachten das eigene Lebensgefühl der Gesellschaft am Vorabend des Ersten Weltkriegs – den sprichwörtlichen Tanz auf dem Vulkan – auf die Bühne. Kálmán ersann dazu hinreißende Melodien, die die aufgereizt-melancholische Grundstimmung nie gänzlich verleugnen können. Feurige Csárdásrhythmen und Walzer in Moll – sonst die eigenwillige Spezialität eines Frédéric Chopin – garantieren ein Lächeln unter Tränen, das auch das Gemüt des Komponisten treffend charakterisiert. Mit Ausnahme des Auftrittslieds der Sylva verzichtete Kálmán in der „Csárdásfürstin“ auch auf große Arien und setzte ganz auf die atmosphärische Wirkung von Duetten, Terzetten und Ensembles.
Rolle der Sylva Varescu besonders reizvoll
„Der besondere Reiz der Rolle der Sylva Varescu liegt darin, dass hier das Bild einer selbstbewussten und doch verletzlichen Frau gezeichnet wird“, erklärt Patricia Nessy. Die Liebe zwischen einem Adeligen und einer Künstlerin entsprach zur Entstehungszeit noch keineswegs den gesellschaftlichen Konventionen, sondern wurde als skandalös empfunden. Die Bezeichnung „Csárdásfürstin“ sei ja nicht als Ehrentitel, wie man meinen könnte, sondern als Spottname zu verstehen, der verächtlich auf die nicht standesgemäße Verbindung, eine Mesalliance, verweise, erklärt sie. Einen Bühnenstar, dem vor Begeisterung alle zu Füßen liegen, darzustellen, sei jedenfalls eine Aufgabe, die sie sängerisch, tänzerisch und schauspielerisch gleichermaßen herausfordere. „Diese Sylva Varescu muss sowohl bei ihrem Showauftritt als auch als Privatperson glaubhaft sein, um als Figur insgesamt stimmig zu wirken und das Publikum zu berühren“, sagt Nessy. Vielleicht könne man es so lösen, dass sie als Diva eine sehr persönliche Note einbringe und als Mensch durchaus zur Theatralik neige. Bei dieser Gratwanderung komme ihr – der Darstellerin – ihre reiche Musicalerfahrung natürlich zugute. Dem der Operette verwandten und doch völlig verschieden geartetem Genre Musical gehört Nessys nächste Zukunft: Gleich nach Ende der „Csárdásfürstin“-Spielserie im Schlosspark Theresianum wechselt sie die große Robe mit dem Bettlerkostüm, wenn sie wieder als Fantine in Claude-Michel Schönbergs „Les Misérables“ auf der Bühne des Stadttheaters Baden stehen wird. Auch die Planungen für den übernächsten Wiener Operettensommer 2012 sind schon weit gediehen: Dann wird sich Patricia Nessy in der Rolle der Lisa in den chinesischen Prinzen Sou Chong verlieben und sich von ihm zu exotischen Lehár-Klängen ins „Land des Lächelns“ entführen lassen.
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