[pd-f] Die Vorteile, die sich aus einer individuell optimalen Sitzposition ergeben, kommen umso stärker zum Tragen, je öfter und länger man im Sattel sitzt und je stärker Faktoren wie Effizienz, Kraftübertragung oder Aerodynamik eine Rolle spielen“, erklärte Ergonomie-Spezialist Frank Stefan Kimmel vom Radhersteller Serotta (www.serotta.de) auf dem Recherche-Kongress Fahrrad des pressedienstfahrrad. Die praktische Umsetzung in eine richtige Sitzhaltung sieht allerdings je nach Fahrradgattung komplett verschieden aus.
Radfahren ist nicht trivial! Fast jeder Radfahrer ist bei der Bestimmung der geeigneten Sitzposition überfordert. Hier können Daumenregeln und grobe Richtlinien als erste Schritte helfen. Soll die Fortbewegung allerdings auch möglichst effizient erfolgen, greifen Allgemeinplätze wie „möglichst aufrecht“ oder „so, dass man noch mit den Füßen auf den Boden kommt“ zu kurz. Für Radhändler ist es alles andere als eine triviale Aufgabe, die richtige Sitzposition für ihren Kunden zu finden.
Falsche Vorbilder Unwissenheit, Nachlässigkeit, Vorurteile und langjährig eingeschliffene Gewohnheiten sorgen dafür, dass die Fahrfreude teilweise erheblich eingeschränkt ist. Taube Hände, Sitzbeschwerden und verspannter Nacken sind die Zeugen einer falschen Sitzposition und werden von vielen Radlern klaglos hingenommen. Gerade im Bereich des sportlichen Radfahrens orientiert sich die Fahrradbranche zu weiten Teilen an den falschen Vorbildern des Hochleistungssports. Langsam sickert diese Erkenntnis auch in der Fahrradbranche durch: „Wir setzen inzwischen verstärkt auf Komfort-Geometrien“, erklärt Stefan Scheitz vom Rennradhersteller Felt (www.felt.de). „Die Modelle unserer Z-Serie mit kürzerem Oberrohr und längerem Steuerrohr werden inzwischen auch von Radprofis angenommen.“
Vermessung oder Anpassung? Allerdings genügt es nicht, nur auf die eigene Vorstellung von der individuellen „Wohlfühl-Sitzposition“ zurückzugreifen – diese muss, oftmals gehörig modifiziert, auch entsprechend umgesetzt werden. „Es gibt verschiedene Vermessungsmethoden und -systeme, die allerdings den dynamischen Aspekt des Radfahrens nur ungenügend berücksichtigen“, erklärt Kimmel. Allein die Feststellung von Körpermaßen bringt wenig, denn Radfahren bedeutet ja vor allem Bewegung, und die hat mit individuellen Bewegungs- und Haltungsmustern, Flexibilität, früheren Verletzungen, aktuellen Beschwerden sowie Vorlieben zu tun. Persönliche Ziele sowie individuelle Stärken und Schwächen variieren ebenfalls deutlich.
Die Anpassung ist daher ein individueller Prozess, der einige Zeit in Anspruch nehmen kann und bei einem bereits existierenden Rad in Standard-Geometrie mittels Veränderung der Lenker- und Sattelposition durchgeführt wird. Hier schlägt die Stunde verstellbarer Vorbauten, die es ermöglichen, mit einem der wichtigsten Faktoren, der Lenkerhöhe, zu experimentieren. „Fürs Tourenrad bieten wir den Q.A.S.-Vorbau (ca. 35 Euro) an, bei dem die Vorbauneigung und damit die Lenkerhöhe werkzeuglos per Schnellverschluss verstellt werden kann“, erläutert Thomas Stagat vom Lenker- und Zubehörspezialisten Humpert (www.humpert.com). Auch an sportliche Räder haben verstellbare Vorbauten ihren Weg gefunden – in Gestalt des formschönen „Swell R“ (ab 60 Euro), der so leicht und steif ist, wie es sich Radsportler wünschen.
Über Vorbau- und Sattelstützenlänge lässt sich auf dem bestehenden Rad jedoch nur ein begrenzter Grad an Optimierung umsetzen. Bei Rennrädern, die aus Gründen einer optimalen Kraftübertragung die genau passende Rahmenhöhe aufweisen müssen, ergibt sich gerade bei modernen Carbonrahmen häufig das Problem, dass der Hersteller nur drei Rahmengrößen vorhält – schlicht und einfach, um in der Herstellung Werkzeugkosten zu sparen. „Wir hören das oft von Kunden, die bei anderen Herstellern nicht fündig geworden sind“, berichtet Felt-Chef Stefan Scheitz. „Bei uns werden auch die Highend-Carbonrahmen in sechs Größen, also in Zwei-Zentimeter-Schritten, gefertigt – da findet jeder Radsportler ein passendes Modell“, erklärt er die Firmenpolitik der angewandten Ergonomie.
Die Maßanfertigung Mehr Individualität geht nur noch über Maßanfertigungen. Einer der bedeutendsten Hersteller ist Ben Serotta, der sein Handwerk in Italien erlernte und dessen US-amerikanische Firma 35 Jahre Erfahrung in der Fertigung von Maßrahmen für Olympioniken, Weltmeister oder leidenschaftliche Rennrad-Enthusiasten besitzt.
„Ein Maßrahmen macht allerdings nur mit einer eingehenden Beratung und Vermessung Sinn“, informiert Serotta-Deutschland-Chef Frank Stefan Kimmel. Denn zum einen muss die optimale Sitzposition des Kunden genau bestimmt werden, zum anderen muss aufgrund von Faktoren wie der Fahrweise, den persönlichen Vorlieben und der Rennrad-Erfahrung des Interessenten auch die Rahmengeometrie festgelegt werden, die maßgeblichen Einfluss auf das Fahrverhalten hat. Schließlich ermöglicht es nur eine Maßanfertigung, auf ganz spezielle Wünsche einzugehen, die ein Renner von der Stange nicht bietet. Etwa ein Reifendurchlauf, der groß genug ist, um gut dämpfende 28-Millimeter-Reifen wie den Stelvio von Schwalbe (www.schwalbe.de) aufzunehmen.
Auch bei der Auswahl der verwendeten Rohre aus Titan oder Carbon spielen die Vorlieben des Fahrers eine wichtige Rolle, ebenso sein Körpergewicht: Soll das Rad agil oder eher gutmütig sein, bocksteif oder angenehm sanft? Bei Serotta werden Material und Geometrie individuell aufeinander abgestimmt. Einzigartig in der Fahrradindustrie ist das Angebot unterschiedlicher Gabeln, von Serotta selbst hergestellt und in verschiedenen Steifigkeiten und Vorbiegungen angeboten.
Das Serotta Size Cycle Die beste Möglichkeit zur Bestimmung der individuell besten Sitzposition stellt momentan die Anpassungsmethode des US-amerikanischen Rahmenbauers Serotta dar. Unter Verwendung eines komplett winkel- und höhenverstellbaren stationären Rads, des so genannten Size Cycle, wird der Kunde vom geschulten Fachmann während des Pedalierens beobachtet. „Die Einstellung der richtigen Sattel- und Lenkerposition im Verhältnis zum Tretlager wird dabei in einem dialogischen Prozess gefunden, der neben wissenschaftlichen Erkenntnissen auch das Feedback des Fahrers mit einbezieht und direkt umsetzt“, erklärt Kimmel.
Der Anpassungsprozess Die gesamte Prozedur dauert für gewöhnlich eine Stunde und wird von einem geschulten und von Serotta zertifizierten Fachhändler durchgeführt. Nach einem ausgiebigen Interview bezüglich der Ziele, Erfahrungen, Beschwerden, Vorlieben und dem gewünschten Einsatzbereich werden zum einzigen Mal zwei Körpermaße genommen: Schulterbreite und Innenbeinlänge. Dies dient ausschließlich zum initialen Einstellen des Size Cycle.
In einem Vorgespräch werden alle notwendigen Informationen ermittelt, die die Festlegung einer optimal auf den Kunden abgestimmten Sitzposition ermöglichen, wobei dessen individuellen physischen Stärken und Schwächen berücksichtigt werden. Ein Beispiel: Die Wirbelsäule sollte beim Radfahren in ihrer natürlichen Form bleiben können und die Vorneigung allein durch Rotation des Oberkörpers an der Hüfte erfolgen; daher werden einige Flexibilitätstests zur Bestimmung der Grenzen eines sinnvollen und auch über einen längeren Zeitraum möglichen Haltungsbereichs durchgeführt.
Eine korrekte Justage beginnt bei den Pedalplatten, arbeitet dann an der Sattelposition, findet danach die optimale Lenkerposition und optimiert schließlich das ganze System, da alle Änderungen einander gegenseitig beeinflussen. Als Werkzeuge kommen Winkelmesser und Lot für die Bestimmung der optimalen Sattelhöhe zum Einsatz, dazu ein Laser, mit dem die seitliche Auslenkung der Knie während des Pedalierens beobachtet werden kann, um sie gegebenenfalls mit speziellen Unterlegscheiben oder Schuheinlagen zu korrigieren. Sämtliche Maße dienen neben der Festlegung der Rahmengeometrie auch zur Bestimmung von Faktoren wie Vorbau- und Kurbellänge oder Lenkerbreite, so dass dem Kunden später ein bereits perfekt auf ihn eingestelltes Traumrad übergeben werden kann.
Die Fertigung Unter Berücksichtigung aller relevanten Daten fertigt Serotta dann einen entsprechenden Maßrahmen, egal ob Rennrad, Mountainbike oder Zeitfahr-Maschine. Serotta bietet somit wie kein zweiter Rahmenbauer eine exakte Anpassung von Fahrer und Fahrrad und fertigt einen bis ins kleinste Detail auf den Kunden abgestimmten Rahmen – dem Credo folgend, dass jeder Mensch in vielen Aspekten individuell ist. Aus diesem Grund kann das Bestreben, das beste Rad zu bauen, immer nur bedeuten: das beste Rad für ein Individuum zu bauen.