(NL/1347887266) Der „Roadrunner" fasste sich an den Knoten seiner schlecht gebundenen Krawatte und versuchte durch Ziehen und Schieben mehr Atemfreiheit zu bekommen. War ihm etwa der Hals angeschwollen oder hatte er nur Schluckbeschwerden?
"Was für ein Anrufer?" blaffte er abfällig, "ich hab nen Termin!"
"Ich weiß, dass Sie mit ihm gesprochen haben", entgegnete ich, "ich war persönlich anwesend, als Sie wie ein aufgescheuchtes Huhn irgendwelche Anweisungen von ihm umsetzen wollten, die von der Regio Media Network zunächst ignoriert wurden."
Er zog seine Augenbrauen verärgert zusammen und schleuderte mir entgegen: "Nur weil Sie nun schon zweimal im Furzsessel des Praktikanten gesessen haben, denken Sie, Sie würden irgendwas verstehen! Sie wollen ein Phantom jagen, dabei haben wir alle den Wolf im Schafspelz immer geradezu vor unserer Nase. Ja, genau, die Anweisungen wurden von der Regio Media Network zunächst ignoriert. Das ist ja das Schlimme daran. Ich bin die letzte Hoffnung, wenn nicht uneingeschränkt getan wird, was ich sage, ist alles zu spät."
Ich blieb demonstrativ entspannt und locker: "Ich gebe Ihnen gerne später die Möglichkeit, zu versuchen, mich in die Irre zu führen. Aber zunächst interessiere ich mich wirklich sehr für diesen Anrufer."
"Claus ist ein Freund, er hat keine bösen Absichten!", gab Roadrunner zurück, "Das wahre Übel sind immer „die netten Menschen aus der Nachbarschaft"!"
"Sein Name ist Claus? Ja, die Nachbarin hätte ich mir eh noch angeschaut…"
"Ich meine im übertragenen Sinn. Claus hält sich nur im Abseits, um nicht auch dem Wahnsinn zu verfallen. Wussten Sie, dass Maria Strack bereits seit sehr langer Zeit mit ihm in Verbindung steht?"
Ich schüttelte ablehnend den Kopf. "Das macht keinen Sinn. Warum sollte sie sich von ihm bedroht fühlen und sich wünschen, dass er dingfest gemacht wird, und mir aber entscheidende Informationen vorenthalten, die zu ihm führen könnten? Und selbst wenn, das müsste in Ihrem Sinne ja befriedigend sein, weil Claus ja, Ihrer Ansicht nach, ein Freund ist. Wie heißt er mit Nachnamen?"
"Er nennt sich Claus Burner, aber nicht mal ich weiß, ob das sein richtiger Name ist. Er muss sich schützen. Manchmal gibt er sich auch aus als Claus von der Bank, Claus vom Finanzamt oder auch Klaus Knast. Und zu Ihrer Frage: Sie wussten nicht, dass Maria mit Ihm schon sehr viel länger in Kontakt stand, weil sie es selber nicht weiß."
"Ist es schlimm, wenn ich Ihnen nicht mehr folgen kann?" In der Tat empfand ich seine Ausführung allmählich verwirrend und fragwürdig.
"Sie hat mindestens, ich betone, MINDESTENS eine weitere Identität", fuhr er fort, "und keine ihrer Identitäten scheint von der jeweils anderen zu wissen. Claus hat es geschafft, Zugang zu wenigstens einer ihrer Persönlichkeiten aufzubauen. In dieser Rolle ist sie eine provozierende Göre, die regelmäßig namhafte Onlineportale aufmischt."
"Wirklich sehr spannend, aber ich muss darauf bestehen, dass Sie mir noch einige Details über…"
"Nein!", unterbrach er mich, "Ich bin ja noch gar nicht fertig. Der Hammer kommt ja noch! Dieses Ausleben von multiplen Identitäten trifft auf JEDEN in der Firma zu. Sie denken, Sie haben es mit sechs Personen zu tun. Ich sage Ihnen, es sind mindestens doppelt so viele, aber die Anzahl ist nach oben unbegrenzt."
"Und Sie haben die Rolle des Schizophrenen, der sich diesen Wahn ausmalt?"
Er sah mich mit einem überheblichen Blick an und konnte trotz aller Beherrschung nicht vermeiden, dass ich für einen Moment Zorn in seinen Augen aufblitzen sah. Gefasst meinte er: "Ich wollte Ihnen einen Gefallen tun, Sie müssen mir das nicht glauben!"
"Ich ziehe es, wenn auch absurd, in Erwägung. Also, ziehe ich auch in Erwägung, dass Sie Claus sind."
"Ja… oder Sie selbst sind es."
Ein etwas peinlicher Moment des Schweigens trat ein. Diese Person, die auf den ersten Eindruck eher Mitleid erweckte, hatte es fast geschafft mich aus der Bahn zu werfen. Solch einen Unsinn konnte sich ein Mensch doch nicht in so kurzer Zeit ausdenken, oder?
Was als Routinefall begonnen hatte, entwickelte sich zum anspruchsvollsten und undurchsichtigsten Fall, den ich bisher hatte. Ja, ich musste alle Möglichkeiten in meine Taktiken mit einbeziehen. Aber dennoch war ich hier, um soviel wie möglich von meiner zweiten Zielperson herauszufinden, zu der mich meine erste Zielperson, Stefan alias „Roadrunner", führen sollte. Ich führte also meine Befragung fort:
"Dieser Claus Burner, ich würde gern mit ihm sprechen. Haben Sie irgendwelche Kontaktdaten für mich? Sie scheinen ja auch öfters mit ihm zu sprechen."
"Er ruft mich an", antwortete er, "Nur so läufts. Und ich kann seine Angst verstehen. Wenn ich nicht so viel Herzblut am isixx-Projekt gelassen hätte, würde ich sofort die Flucht ergreifen, um nicht auch noch verrückt zu werden. ICH bin isixx, nur ICH kann es retten. Und damit rette ich auch meine Zukunft."
"Ihre Zukunft?", hakte ich nach.
Sein Gesichtsausdruck bekam nun etwas resignierendes, als er sprach. "Ja, jeder Idiot hat inzwischen so ein iphone, und so langsam erkennen die Menschen, dass es im Grunde gar keinem Zweck dient. Ich kann den Scheiß nicht mehr verkaufen. Außerdem hat Google erkannt, dass ich mit unlauteren Methoden meine eigene Webseite im Ranking pushe, und sie aus dem Index genommen wurde. Ohne isixx bin ich also ruiniert."
"Na, aber dieser Claus – er sagt doch, er arbeite für Google?", warf ich ein, "Der bekommt das mit dem Index doch wieder hin, oder?"
Stefans geübtes Spiel aus verschiedensten Mimiken kam augenblicklich zu seinem Ende, ihm stand mit einem Schlag nur noch das blanke Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Seine Hautfarbe wollte so gar nicht mehr zum sonnigen Wetter passen.
"Oh mein Gott… wie konnte ich das übersehen! Er steckt auch mit drin! Ich hab ihm das mit meiner Website erzählt, er war das! Er hat sie aus dem Index genommen, natürlich! Oh mein Gott, wem kann man noch trauen! Alle verrückt! Alle wahnsinnig!"
Ohne Ankündigung wandte er sich von mir ab und rannte in dieselbe Richtung, von der er gekommen war – und ich hatte ein Dejavu-Erlebnis. Wieder achtete er nicht auf den Verkehr. Wieder lief er direkt vor ein Auto. Doch diesmal konnte dieses nicht mehr bremsen. Es machte einen dumpfen Schlag und der Roadrunner lag bewegungslos auf der Straße.