Im Fokus der zweitägigen Veranstaltung stand insbesondere eine patientenzentrierte und qualitätsgesicherte medizinische Versorgung. Zentrale Diskussionsthemen waren daher auch sektorenübergreifende Kooperationsformen und Netzwerkarbeit der Leistungserbringer des Gesundheitsmarktes.
Versorgung ohne Grenzen
Der Auftakt des zweiten Messekongresses erfolgte durch Sophia Schlette vom Gemeinsamen Bundesausschuss. Statt von sektorenübergreifender sollte ihrer Meinung nach von integraler, also sektorenüberwindender Versorgung gesprochen werden. Das bisherige System konzentriere sich zu stark auf den Hausarzt. "Gute Versorgung ist am Menschen orientiert", so die Auffassung der Referentin. Damit einher gehe eine noch fehlende Dienstleistungsorientierung des deutschen Gesundheitssystems, wie sie beispielsweise in den Vereinigten Staaten zu finden sei. "Das System muss zu den Menschen kommen, nicht die Menschen zum System." Aussagen bezüglich der Qualität der Versorgung basieren häufig auf der Anzahl niedergelassener Ärzte.
Unbeachtet bleiben dabei Koordinierungsdefizite medizinischer Leistungen, die in Deutschland vor allem in der Nachsorge bestehen. Die Koordinierung der Versorgung hänge aber nicht vom Finanzierungsmodell ab. Laut einer internationalen Studie des Commonwealth Fund aus dem Jahr 2011 weisen Großbritannien mit lediglich 24 Prozent sowie die Schweiz mit 48 Prozent geringere Versorgungslücken in der Nachsorge (z. B. fehlende Informationen bei der Entlassung) auf, als Deutschland mit 61 Prozent. Schlette hebt ferner das Potenzial des Selbstmanagements von Patienten hervor. "Mehr als 80 Prozent aller Krankheitssymptome werden selbst diagnostiziert und ohne ärztlichen Rat behandelt." Diese Bereitschaft müsse viel systematischer in die Primärversorgung integriert werden. Insbesondere Mobile Health (Mhealth) gewinnt im Versorgungsmanagement zunehmend an Bedeutung. "Die Zukunft wird mobil", so die Meinung der Referentin. Dadurch könne das Selbstmanagement gestärkt, Versorgungslücken geschlossen und Kosten gesenkt werden.
Social Media ist angekommen um zu bleiben
Auch Social Media ist daher interessant für das Versorgungsmanagement. Alexander Schachinger, Gründer von Healthcare42 zeigte in seinem Vortrag Entwicklungen und Möglichkeiten für das Gesundheitssystem auf. "Diese beiden Welten passen eigentlich nicht zusammen". Das Gesundheitssystem funktioniert überwiegend 'top-down'.
Der Zugang zu Wissen und Leistungen erfolgt mittels Autoritäten und Institutionen. Social Media hingegen ist durch seine Nutzer 'bottom-up' gesteuert. Potenzial liege insbesondere in der Vernetzung beider Systeme (virtuelle Sprechstunden, E-Mail-Kontakt zu Ärzten bzw. Pflegepersonal, Webportale zur Nachsorge bestimmter Erkrankungen). Schachinger verweist auf die erste deutschlandweite Erhebung zum veränderten Verhalten des sogenannten E-Patienten aus dem Jahr 2010. So wirkt sich die Nutzung von Online-Gesundheitsinformationen auf Wahl und Reputation des Arztes aus. Auch werden die Behandlung und die Entscheidung für Alternativen beeinflusst. Patienten nehmen folglich eine neue Position auf dem Gesundheitsmarkt ein. Das kann indirekt auch zu einer veränderten Versorgungsqualität führen. Laut Florian Eagon von der Gedikom GmbH schafft Social Media zudem einen Mehrwehrt für Unternehmen und Leistungserbringer.
Ambulant vor stationär
Auch bei der Versorgung psychisch erkrankter Menschen geht die Tendenz zur bedarfs- und patientenorientierten Betreuung. Dr. Martin Gröbner von der GWQ ServicePlus AG stellte in seinem Vortrag das Versorgungsprodukt SeGel (Seelische Gesundheit leben) vor. Der Kern von SeGel ist das sogenannte 'Home Treatment'. Patienten werden ambulant in ihrem Wohnumfeld versorgt. Basis hierfür ist die Zusammenarbeit und Kooperation zwischen ambulanten psychiatrischen Leistungserbringern und den Krankenkassen. Über die praktische Umsetzung des Produkts referierte Helmut Thiede von der Gesellschaft für Ambulante Psychiatrische Dienste (GAPSY). Über eine Koordinierungsstelle hat der Patient Zugang zu einem Netzwerk bestehend aus verschiedenen Leistungserbringern wie z. B. Ergotherapeuten, Allgemein- und Fachärzten, Psychotherapeuten und Soziotherapeuten. Darüber hinaus entscheidet er über die Art und den Umfang der Maßnahmen selbst.
So werden Patientenautonomie, Eigenständigkeit sowie Selbstbestimmung gefördert. Durch frühe Unterstützung können ferner chronische Verläufe psychischer Erkrankungen sowie die Einnahme von Medikamenten vermindert werden. Laut Thiede kommt dem ambulanten System eine tragende Rolle in der Versorgung zu.
Arbeit als Rehabilitation
Über die Arbeitswelt als mögliche Bedingung für psychische Erkrankungen referierten Dr. med. Wolfram Kawohl von der psychiatrischen Universitätsklinik Zürich und Christian Koch von der Leuphana Universität Lüneburg. "Psychische Arbeitsunfähigkeitsfälle verzeichnen in den letzten zehn Jahren ein überproportionales Wachstum", so Kawohl. Der jährliche Schaden für die Unternehmen beträgt etwa 7,1 Mrd. Euro. In seinem Referat stellte er den in den Vereinigten Staaten entwickelten Supported Employment-Ansatz (SE) vor. Ziel ist die direkte Platzierung psychisch erkrankter Menschen in den ersten Arbeitsmarkt als Bestandteil der Rehabilitation. In Deutschland findet die Rehabilitation bisher als Schritt vor dem Wiedereinstieg ins Arbeitsleben statt. Die Realisierung von SE erfolgt an der Universitätsklinik Zürich mithilfe eines Jobcoaches. Dieser ist Ansprechpartner sowohl für den Arbeitnehmer als auch für den Arbeitgeber. Die Kosten hierfür werden in der Regel durch die Krankenkasse, die Krankentagegeldversicherung oder den Arbeitgeber übernommen. Erste Evaluationsergebnisse zeigen, dass
neben der Dauer des Coachings insbesondere die Erwartung und Motivation des Klienten für den Integrationserfolg verantwortlich sind. "Das Job-Coaching ist ein Ansatz, der auch in Deutschland erfolgsversprechend ist", so die Auffassung des Referenten.
"Sie müssen alle Informationskanäle öffnen."
Laut Dr. med. Dierk Schreiter, vom Universitätsklinikum Dresden stieg die Anzahl der Behandlungsfehler mit tödlichem Ausgang im Jahr 2010 um 35 Prozent gegenüber dem Vorjahr an. Um Fehlern z. B. bei der Versorgung von Schwerverletzten vorzubeugen, sei die Kommunikation entscheidend. Das gilt auch beim Risikomanagement im Krankenhaus. Nach Prof. Dr. med. Martin L. Hansis vom Städtischen Klinikum Karlsruhe müssen zunächst Sprachbarrieren abgebaut werden. Statt von Fehlern spricht er daher von verletzten Normen. Die größte Angst habe er vor "Fehlern" die bereits zur Gewohnheit geworden sind. Die Meldung solcher Vorkommnisse dringen häufig nicht zur Geschäftsführung durch. "Sie müssen alle Informationskanäle öffnen", so Hansis. Denn nur so können Ursachen von fehlerbehafteten Situationen systematisch ermittelt und zukünftig vermieden werden. Für die Meldung existieren verschiedene anonyme Systeme. Dr. med. Julia Rohe vom Ärztlichen Zentrum für Qualität in der Medizin stellte das Critical Reporting System (CIRS) vor. Dabei handelt es sich um ein Online-Meldeportal in dem neben den Fehlermeldungen auch entsprechende Lösungsvorschläge seitens des Führungspersonals anonym veröffentlicht werden. Alle Beteiligten lernen somit über Fehler zu kommunizieren.
Hochkostenmanagement: effiziente Versorgungssteuerung
Von zunehmender Wichtigkeit ist die Versorgungssteuerung von Patienten mit chronischen Erkrankungen sowie von Patienten die eine intensiv medizinische Versorgung benötigen. Frank Rudolf vom AOK-Bundesverband stellte das Hochkostenfallmanagement der AOKen für invasiv beatmete Patienten vor. Sowohl interne als auch externe Versorgungsbereiche sind hierfür miteinander vernetzt. Allerdings müsse der Informationstransfer insbesondere zwischen Krankenhäusern und Krankenkassen verbessert werden. Dies würde Planung und Koordination positiv beeinflussen und folglich auch eine höhere Qualität der Versorgung ermöglichen. Dr. med. Martina Schilling von der ERGO Versicherungsgruppe AG betonte die möglichen Kosteneinsparungen durch ein Fallmanagement.
Innovation durch Kooperation
Seit 2007 können die Krankenkassen die Versorgung mit bestimmten Medikamenten ausschreiben und direkte Verträge mit Herstellern abschließen. "Bei Kooperationen stehen noch finanzielle Gründe im Vordergrund, die Versorgungsoptimierung der Versicherten spielt aber eine immer größere Rolle", so Frank Böhme von der Sanofi-Aventis Deutschland GmbH. Dies könne durch den Aufbau regionaler Versorgungsnetze sowie durch gemeinsame Gestaltung effizienter Versorgungskonzepte bewirkt werden. Weitere Gründe für die Zusammenarbeit sind die Informationsgewinnung, der Aufbau von Know-how sowie Wettbewerbsvorteile gegenüber anderen Krankenkassen. Auch im Bereich der Forschung setzen die Akteure auf Vernetzung und Kooperation.
Prof. Dr. med. Martin Storck vom Städtischen Klinikum Karlsruhe und Roland Nagel von den Gesundheitsforen Leipzig stellten die Umsetzung einer 'Studie zur Wirksamkeit der modernen Vakuum-Wundtherapie' vor. Wird die Wirksamkeit bestätigt, ist eine Aufnahme in den Leistungskatalog der Krankenkassen vorgesehen. "Im Rahmen des Projektes entsteht erstmalig eine neue Form der Zusammenarbeit zwischen Krankenversicherung, Industrie, Wissenschaft und Managementstrukturen", so Nagel. Ferner werden dadurch deutschlandweite Strukturen der integrierten Versorgung sowie Strukturen für weitere Evaluationen geschaffen.
"Erfolgsmessungen sollten in den Routinebetrieb verankert sein"
Neue Versorgungsprodukte müssen auf ihren medizinischen sowie wirtschaftlichen Nutzen geprüft werden. Dafür werden Daten vor mit Daten nach der Inanspruchnahme des Produkts verglichen (Pre-Posttest-Vergleich). Laut Dr. med. Thorsten Pilgrim von der Anycare GmbH sind die Möglichkeiten des Designs jedoch begrenzt. Schwierigkeiten ergeben sich durch die benötigte Vergleichsgruppe. "Kurzum: gesucht wird ein Versicherter, der sich in Bezug auf seine Kostenentwicklung wie ein Zwilling verhält", so der Referent. Für die einzelnen Personen wird der sogenannte Propensity Score berechnet. Danach lassen sich die Personen angemessen zu der Vergleichsgruppe zuordnen. Gregor Drogies stellte in seinem Referat das Vorgehen der DAK-Gesundheit zur risikoadjustierten Erfolgsmessung vor. Für die Bildung der Vergleichsgruppe wurden Propensity Scores ermittelt. Allerdings "ist die Etablierung einer Erfolgsmessung nur dann sinnvoll, wenn sie fest in den Routinebetrieb verankert wird", so Drogies. Auch die Entscheidung für die Durchführung eines Versorgungsprogramms basiert auf bestimmten Analyseverfahren. Björn Degenkolbe von den Gesundheitsforen Leipzig stellte in seinem Vortrag Assoziationsanalysen zur Beschreibung und Prognose von Versorgungsprozessen vor. In einer Analyse werden Zusammenhänge zwischen verschiedenen Daten (Diagnose, Arzneimittelverordnung) und der Wahrscheinlichkeit des Auftretens eines Ereignisses (Erkrankung, Krankengeldbezug, Hospitalisierung) ermittelt. Diese Resultate können zur Gestaltung einer bedarfsgerechten Versorgung, wie z. B. zur Entwicklung neuer Versorgungsprogramme genutzt werden.
"Fehlverhalten gehört zu Menschen"
Die Komplexität und Intransparenz des Gesundheitssystems begünstigen auch Fehlverhalten bzw. betrügerische Handlungen. Laut Wolfgang Benz von der Techniker Krankenkasse entstehen im Gesundheitswesen etwa 13,5 Mrd. Euro Schaden jährlich durch Betrug. "Das ist eine nicht akzeptable Größe." Die interessanten Bereiche seien die mit den häufigsten Leistungsfällen, wie z. B. im Krankenhaus, bei Ärzten und im Arzneimittelbereich. Dabei geht es nicht darum zu kriminalisieren, sondern im Sinne des gesamten Systems präventiv zu handeln. Wichtig sei zudem die Kommunikation bisheriger Untersuchungsergebnisse. Schon das führe zur Erhöhung der Hemmschwelle. Zukünftig sollte es mehr kassenübergreifende sowie bundesländerübergreifende Kooperationen geben. Ein schwieriges Gebiet sei die Verwendung von Informationen eines Whistleblowers (Hinweisgebers). Laut Benz liege hierin allerdings die Zukunft, denn "ab einem bestimmten Punkt ist die Sicht versperrt". Wesentlich sei aber auch ein proaktives Vorgehen.
Die vollständige Agenda der Veranstaltung finden sie hier.
http://www.versicherungsforen.net/fs/vfl/media/leistungen/veranstaltungen/messekongresse/2012/mkg_1/Messekongress_GesundheitVersorgung_2012_PROGRAMMHEFT.pdf
Ein großer Dank gilt allen Teilnehmern, Referenten sowie Ausstellern u. a. der MD Medicus Holding GmbH. Mit ihrer Mitwirkung und ihrem Engagement wurde der zweite Messekongress 'Gesundheit und Versorgung' zu einer erfolgreichen Veranstaltung mit spannenden Vorträgen und anregenden Diskussionen.
Auch im kommenden Jahr ist es das Ziel der Gesundheitsforen Leipzig Ihnen eine Plattform für den wissenschaftlichen und praxisbezogenen Austausch über aktuelle Entwicklungen und innovative Ansätze der Gesundheitsversorgung zu bieten.
Der dritte Messekongress findet am 16. und 17. April 2013 statt.
Ihr Ansprechpartner
Madeleine Ordnung
Assistentin im Team Netzwerk und Veranstaltungen
F +49 (0)341 / 1 24 55 -33
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