Thyrnau-Kellberg - Der technische Fortschritt in der Krebsmedizin macht es möglich: Nicht mehr jeder Krebspatient geht automatisch in Rente, dies führt aber zu neuen Fragen im Sozialrecht. "Wir müssen Brücken zwischen Klinik und Alltag bauen", sagte Chefarzt Dr. Markus Higi von der Klinik Prof. Schedel am 24.April 2012 beim Start des zweitägigen "Kellberger Krebssymposium" vor rund 50 Sozialdienst-Experten aus ganz Bayern.
"Der Tumorpatient lebt heute länger, aber auch länger mit der Therapie und deren Folgen", sagt Chefarzt Dr. Markus Higi. Jeder Entlassungsbericht eines Rehabilitationspatienten nehme heute zur beruflichen Leistungsfähigkeit Stellung. Im Zuge dieses "Rentengutachtens" seien früher die meisten Patienten zum "Rentner" gestempelt worden. Da die Diagnosen wegen des medizinischen Fortschritts immer früher gestellt werden, steigen die Überlebensraten von Krebspatienten.
Die Prognose einer Tumorerkrankung darf nach den Anforderungen der Rentenversicherungen keinen Einfluss auf die Leistungsfähigkeit nehmen. Diese Leistungsfähigkeit hänge von vielen Faktoren ab. Der Trend zu minimalinvasiven Eingriffen führe dazu, dass der Patient schneller auf die Beine komme. Wegen der inzwischen punktgenauen Bestrahlungen sind laut Higi höhere Dosen mit weniger Nebenwirkungen verbunden. Neue Substanzen in Tumormedikamenten würden ebenfalls die Leistungsfähigkeit beeinflussen.
Wegen des medizinischen Fortschritts und der Vorsorge ergeben sich laut Higi neue Herausforderungen. Die frühzeitige Erkennung von Prostata-Krebs über die Bestimmung des PSA-Wertes mache die Betroffenen früher zum Patienten, aber nicht immer schon rentenfähig. Problem in der Praxis: Kann etwa ein 55-jähriger Lehrer mit Inkontinenz noch zur Arbeit gehen? Früher klagten etwa 20 Prozent der Brustkrebs-Patientinnen über Armschmerzen, so dass sie bestimmte Berufe nicht mehr ausüben konnten. Inzwischen werde Achsel schonend operiert, so dass die Leistungsdefizite selten werden, so Higi.
Der Chefarzt der onkologischen Reha-Klinik Prof. Schedel unterstrich die Bedeutung der Fortbildung in der Beratung der Krebspatienten. Das Kellberger Symposium sei zu einer festen Einrichtung geworden, so Higi. "Die informelle Hektik" zwischen Akut- und Rehakliniken erfordere die Abstimmung aller Beteiligten. "Wir müssen ein Ohr bei den Patienten, das andere bei den rechtlichen Vorschriften haben", beschreibt Dr. Markus Higi den Spagat.
Markus Besseler, Geschäftsführer der Bayerischen Krebsgesellschaft e. V., wies auf die Bedeutung der sozialen Sicherheit für Krebspatienten hin. "Die Menschen werden früher aus Akutkrankenhäusern entlassen und sind damit auch früher sich selbst überlassen." Damit sie nicht allein stehen, biete die Krebsgesellschaft mit bayernweit 50 Beratungsstellen professionelle Unterstützung bei der Krankheitsbewältigung. Der Mensch stehe im Mittelpunkt der rund 200 Selbsthilfegruppen, so der Diplom-Psychologe. Ziel der Hilfe sei es, Menschen nach der Diagnose Krebs wieder Mut zu machen und ihnen zu helfen, mehr Lebensqualität und Lebensfreude zu entwickeln. "Wir verstehen uns als Anwalt der Krebspatienten", sagt Besseler.
Männer sind Vorsorgemuffel
Das Netzwerk bei seelischen Belastungen und sozialen Problemen macht sich laut Besseler für mehr Vorsorge stark. Die Bayerische Krebsgesellschaft mit rund 2.500 Mitgliedern leiste wertvolle Aufklärungsarbeit, um das Thema zu enttabuisieren. Nachholbedarf haben laut Besseler besonders die Männer. Auf vier Frauen komme ein Mann, der zur Früherkennung gehe. "Der Mann bringt eher sein Auto zur Inspektion, als dass er zur Krebsvorsorge geht", mahnt Besseler.
Sonja Feyrer-Schmid von der Krebsberatungsstelle am Klinikum Passau hatte am Dienstag rund 50 Sozialdienst-Expertinnen und Experten aus ganz Deutschland begrüßt. Bereits zum fünften Mal seit 2003 findet das Symposium statt, um sich über neueste Entwicklungen auszutauschen. Der Sozialdienst im Krankenhaus bietet Patienten und deren Angehörigen Beratung, Information und praktische organisatorische Hilfe für die persönlichen, sozialen und sozialrechtlichen Belange an.
Früher war der Rehabilitationsaufenthalt laut Leitender Oberarzt Dr. Stefan Trill von der Klinik Prof. Schedel die Ergänzung zur Akutversorgung. Wegen der kürzeren Aufenthaltszeiten in den Kliniken sei die dreiwöchige Rehabilitation der verlängerte Arm geworden. "Wir übernehmen immer mehr Aufgaben aus dem Akut-Bereich", sagt der Oberarzt der Klinik Prof. Schedel. Dabei seien die rechtlichen Vorschriften der Versicherungsträger und Krankenkassen "sehr auslegungsbedürftig". Trill setzte sich in seinem Vortrag mit der Rehafähigkeit von Patienten auseinander. "Braucht der Patient eine Reha, kann er sie durchführen und bringt die Reha etwas?" seien die wichtigsten Fragen im Vorfeld.
Richtige Versorgung zum richtigen Zeitpunkt
Der Patient muss Trill zufolge nach den Vorgaben der Kostenträger zumindest motivierbar sein. "Reha-Fähigkeit ist ein umkämpftes Feld", sagt der Oberarzt. Ziel sei es, so Trill, dass der Patient zum richtigen Zeitpunkt in der richtigen Versorgungsstruktur ist. "Im Einzelfall sinnvolle Lösungen für den Patienten finden", empfiehlt er bei Problemen zwischen Kostenträgern, Kapazitäten, Bürokratie und dem Verlauf der Tumorerkrankung.
Weitere Referenten
Die Referenten Romana Kitzlinger (AOK Bayern/Direktion Passau), Regina Krailinger (Deutsche Rentenversicherung (Bayern Süd/Pasau), Armin Maucher (Deutsche Rentenversicherung Bayern Süd/Landshut) und Harald Zellner (MSW Versorgungsmanagement, Medizinische Geschäftsführung Städtisches Klinikum München GmbH) beleuchten in Vorträgen und Diskussionen am zweiten Tag (Mittwoch) des Kellberger Krebssymposiums neueste Entwicklungen im Sozialrecht.