In diesem Katastrophenszenario gewährt Richard einer unbekannten Frau namens Emma Unterschlupf in seiner Wohnung und verleugnet sie vor ihren Verfolgern, die einer mysteriösen Organisation anzugehören scheinen. Doch genauso unerwartet, wie Emma aufgetaucht ist, verschwindet sie auch wieder. Zurück lässt sie lediglich einige undurchsichtige Bemerkungen über ihre Person und ein paar Kleidungsstücke. Richard versucht, den Vorfall zu vergessen, doch immer wieder wird er durch sonderbare Vorfälle an Emma erinnert. Als schließlich auch er von Emmas Verfolgern bedroht wird, beginnt eine Odyssee durch das mehr und mehr im Hochwasser versinkende Berlin. Welches Geheimnis umgibt Emma und wird Richard sie retten können?
Leseprobe:
Samstag, 9. August 2042
Kurz nach neun war ich aufgestanden und hatte den Rest des Tages vertrödelt. Ein Blick nach draußen zeigte mir, dass noch immer das Sauwetter der letzten Tage herrschte. Eine kaum zu durchdringende Regenwand hing vor dem Fenster. Hin und wieder wurde sie durch das Aufzucken eines Blitzes zerrissen, dem ein dumpfes Gurgeln folgte - als ob selbst der Donner in den Wassermassen ersaufe.
Der Bahnhof Friedrichstraße, der sich zweihundert Meter entfernt von meinem Haus am Schifferbauerdamm befand, war nur mehr als schemenhafter Buckel zu sehen. Mit Mühe konnte ich das Band der kanalisierten Spree erkennen, die unten ihres Weges zog. Ihr Pegel stieg weiter und weiter. Aber das war nur zu erahnen.
Jede Bewegung erinnerte mich daran, wie unangenehm das Hemd auf meinem schwitzenden Körper klebte. In meiner Wohnung, die über keine Klimaanlage verfügte, herrschten fünfunddreißig Grad! Laut Meteo war keine Änderung des Wettergeschehens zu erwarten.
Meine beruflichen Aussichten waren nicht besser. Jahrelang hatte ich Programme für intelligente Teppiche entwickelt. Doch nach dem Farbenskandal vom vorangegangenen Jahr war meinem Auftraggeber die Kundschaft ferngeblieben. Wer kaufte schon Teppiche, die sich nicht reinigen ließen? Da konnten sie noch so intelligent sein! Mich als Freelancer hatte es natürlich als einen der ersten erwischt. Am Donnerstag, mitten in der Programmierung einer offenen Do-While-Schleife, erhielt ich den Anruf. Mit sofortiger Wirkung, hieß es.
Ich trat näher ans Fenster. Gerade als ich mich fragte, wann sich die Spree mit dem See, der sich auf der Straße gebildet hatte, vereinen würde, sah ich, wie eine von der Friedrichstraße kommende Person den Schiffbauerdamm entlang eilte. Sie schaute sich immer wieder um, als würde sie verfolgt. Und tatsächlich: Jetzt sah ich zwei weitere Gestalten aus dem Regen auftauchen.
Die erste Person überquerte die Straße. Gleich darauf verschwand sie unter meinem Erker. Dem Laufstil nach zu urteilen, war es eine Frau.
Ich wechselte zum jenseitigen Fenster des Erkers in der Absicht, die Jagd von hier aus weiterzuverfolgen.
Ich wartete vergebens.
Stattdessen hörte ich den Türgong, dann lautes Klopfen. Ich schaltete das Spionbild ein. Da stand die Frau, die ich zuvor beobachtet hatte. Wie war sie ins Haus gelangt?
Einen Moment schwankte ich. Sollte ich ihr öffnen? Mir fielen die beiden Verfolger ein. Ja, ich wollte ihr helfen.
Sie schlüpfte herein und blickte mich durch ihre nassen Haarsträhnen unverwandt an. Angst spiegelte sich in ihren Augen. Sekunden vergingen ohne ein Wort. Dann waren Schritte im Treppenhaus zu vernehmen. Ich schloss behutsam die Tür. Die Frau legte den Finger auf die Lippen und zog mich am Arm ins Innere der Wohnung. Erneut ging der Türgong. Auf dem Monitor sah ich die Verfolger, zwei Männer in Overalls. Die Frau beschwor mich gestenreich, nicht zu reagieren. Doch ich hatte bereits die Mikrotaste gedrückt und mich gemeldet.
„Haben Sie soeben eine Frau in Ihre Wohnung gelassen?“
Ich überlegte: Sie mussten bereits im Haus gewesen sein, als ich die Frau eingelassen hatte. Und mit Sicherheit gab es Wasserspuren, die zu meiner Wohnung führten.
Meine Besucherin schüttelte beschwörend den Kopf.
Entgegen aller Logik sagte ich: „Nein, ich habe keine Frau in meine Wohnung gelassen. Warum fragen Sie?“
„Weil einiges darauf hindeutet.“ Der Sprecher richtete seinen Blick auf den Boden, womit er mir zu verstehen geben wollte, dass die Wasserspritzer mich verrieten.
Warum ließ ich mich überhaupt auf eine Diskussion ein? Vertrauenserweckend sahen die beiden Gestalten nicht gerade aus. Der kleinere von ihnen hatte an der linken Schläfe eine Narbe, die vom nachgewachsenen Haar noch nicht wieder ganz verdeckt wurde. Ich zoomte näher heran und sah den typischen Abdruck neben dem Ohr. Der Mann hatte sich einen Kommunikationschip implantieren lassen. Das Ding kam bei Telefoniersüchtigen mehr und mehr in Mode. Die Narbe war das Bemerkenswerteste an seinem sonst blassen Gesicht. Das seines Begleiters war umso imposanter, fast furchteinflößend. Der schwarze Vollbart und die scharf geschnittenen Hakennase ließen mich unwillkürlich an einen Piraten denken.
„Darf ich fragen, wer Sie sind?“
„Wir kommen im Auftrage der...“, begann der Chipmensch zu sprechen. Doch der Pirat, der bisher geschwiegen hatte, fiel ihm ins Wort. Waren sie sich nicht einig?
„Wir vertreten die Interessen einer gemeinnützigen Vereinigung, die sich um Personen mit nicht normgerechtem Verhalten kümmert. Ihre Besucherin ist eine von ihnen.“
Der Autor:
Rüdiger Lehmann wurde 1956 in Bautzen/Sachsen geboren und kam 1978 zum Studium der Außenwirtschaft nach Berlin. Kurz vor dem Mauerfall 1989 siedelte er in die Bundesrepublik über. Seine Tätigkeit als EDV-Berater übte er in Frankfurt/M., London, Atlanta/Georgia, Nürnberg und Basel aus. 2004 kehrte er nach Berlin zurück. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit geht er der Beschäftigung als Komparse und Kleindarsteller für TV- und Kinoproduktionen nach.