(Hamburg, 28. Januar 2009) Wie individuell oder standardisiert darf eine medizinische Versorgung sein, die von der Solidargemeinschaft getragen wird? Steht „individuell“ für Selbstzahlermedizin? Hat Individualmedizin in unserem Gesundheitssystem überhaupt eine Chance? Diese Fragen standen im Mittelpunkt der offenen Diskussion beim „5. Eppendorfer Dialog zur Gesundheitspolitik“ am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Der Initiator des renommierten Expertenforums, Prof. Matthias Augustin, scharte wie gewohnt eine prominente Expertenrunde um sich, um – so das Konzept der Veranstaltung – alle Facetten abzudecken, die bei der Frage nach Individualisierung in der Medizin entscheidungsrelevant sind.
In zwei Punkten waren sich die Experten einig: Gute Medizin sollte grundsätzlich individuell auf den Patienten zugeschnitten sein, und Individualmedizin darf keinem rein ökonomischen Prinzip unterliegen. Prof. Augustin fasst die Grundüberlegungen für individuelle Medizin als das Verständnis des Menschen in seiner bio-psycho-sozialen Einmaligkeit zusammen. Eine gesundheitspolitisch verordnete Richtlinienmedizin erstickt solche Betrachtungsweisen allerdings bereits im Keim. Der engagierte Ärztevertreter Dr. Montgomery konstatiert, dass zwischen Kommerzmedizin und Individualmedizin die Wissenschaftsökonomie als Regulativ selbstverständlich unumgänglich ist. Aus seiner Sicht schränken die von Politik, Gemeinsamem Bundesausschuss und IQWiG aufgestellten Richt- und Leitlinien die Chancen zur Individualisierung aber auf drastische Weise ein. Für viele innovative Individual-Versorgungskonzepte gibt es keine hohe Evidenz, und oft fehlen auch die finanziellen Mittel für Studien. Ein weiterer belastender Faktor: Ein Globalbudget wie der Gesundheitsfond verschärft den Verteilungskampf, so dass da kaum Platz für neue Verfahren ist. Montgomery: “Wir leben in einer freien Gesellschaft, in der man sich kaufen kann, was angeboten wird und was man bezahlen kann. Eine Mehrklassenmedizin ist unausweichlich.“
Einen anderen Blick in Richtung Individualmedizin hat das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), beim Eppendorfer Dialog vertreten durch PD Dr. Knöss, den Leiter der Abteilung Besondere Therapierichtungen. Knöss lässt keinen Zweifel am Pluralismus der verfügbaren Therapieformen aufkommen. Der wesentliche Anspruch muss aber sein, so Knöss, dass für alle Arzneimittel und Methoden die Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit dokumentiert und bewertet wird. Nur dadurch lässt sich die Grundlage für die sichere Anwendung von Arzneimitteln am Menschen schaffen. Deutschland gehört zu den Ländern mit den wenigsten Arzneimittel-Skandalen weltweit. Eine kritische Betrachtungsweise und die Dokumentation anhand von randomisiert-kontrollierten Studien macht die Medizin in unserem Land sicher – wenn auch relativ konservativ.
Aber können Maßstäbe für die Zulassung von „blockbuster“-Arzneimitteln auch als Maßstäbe für die Bewertung individueller Arzneien gelten? Als Beispiel für die regulatorischen Hemmnisse einer medizinischen Innovation stellt PD Dr. Nolte die autogene Vakzine bei chronisch-rezidivierenden Infektionen vor – ein seit 1903 bekanntes Therapieprinzip. Aus dem krankheitsauslösenden Erreger eines Patienten wird ein Erregerisolat als Antigen für die therapeutische Immunisierung eben dieses Patienten hergestellt. Individualimpfstoffe, die Nolte für den Hersteller UniVaccin® erforscht, sollen unabhängig von der individuellen Resistenzsituation, antigenetischen Variation und Ausstattung mit Virulenzfaktoren machen. Nolte kann eine Erfolgsrate bis zu 80% bei Furunkulose, Osteomyelitis, Sekundärinfektionen bei diabetischem Fußsyndrom, rezidivierender Cystitis und Sinusitis nachweisen – bei gleichzeitiger Entlastungen des Gesundheitswesens. Allerdings ist Evidenz bei dieser Individualtherapie kaum möglich. Somit ist die autogene Vakzine bislang IGELeistung und steht sozial schwachen Patienten nicht zur Verfügung. Nolte: „Überall in der Forschung werden innovative Zulassungskonzepte gefordert, um Fortschritte in der medizinischen Grundversorgung in Deutschland zu ermöglichen.“
Inmitten der hitzigen Diskussionen über Zwänge und Appelle auf allen Seite bringt der Theologe und Dermatoonkologe Prof. Volkenandt eine faszinierend andere Definition von Individualmedizin auf: Ethik als das Individuelle in der Medizin. Volkenandt spricht über die Individualität ärztlichen Handelns angesichts tagtäglicher Grenzen. Denn trotz aller Forschung wird ärztliches Wissen immer begrenzt bleiben. Diese Erkenntnis und das Eingeständnis der prinzipiellen Unwägbarkeit ärztlichen Handelns sollte - so Volkenandt - zu einer Verhaltensänderung gegenüber dem Patienten führen. Sich der eigenen Unwissenheit nicht durch Überheblichkeit zu entziehen, sondern den Patienten in seiner Individualität zu beachten, sich mit ihm zu solidarisieren, ihm Mitgefühl zu vermitteln, ist eine Tugend. Volkenandt: „Der Medicus in seiner Ursprungsübersetzung bedeutet ‚klug abmessender Ratgeber’. Wenn wir zwischenmenschliches Agieren als Individualmedizin begreifen, haben wir auf der einen Seite Patienten, die sich verstanden und aufgefangen fühlen. Und auf der anderen Seite Ärzte, die eigene Zufriedenheit aus ethischem Handeln schöpfen.“