Fast ein Fünftel aller Kinder in Deutschland
würden nach aktuellen Schätzungen von Frühen Hilfen profitieren. Doch
von den rund 30 Milliarden Euro, die allein pro Jahr in die Kinder-
und Jugendhilfe fließen, kommt nur ein ganz geringer Teil den "Frühen
Hilfen" zugute. So gibt es gerade in sozial benachteiligten Familien
gravierende Defizite bei der Kindergesundheit. Dies trifft vor allem
für die drei Millionen der Kinder und Jugendlichen zu, die in Armut
leben. Denn die Hilfe für diese Kinder kommt häufig zu spät oder
greift zu kurz.
Laut Deutscher Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin
(DGSPJ) könnten auch Kinder aus prekären Lebensverhältnissen durchaus
früher erreicht werden. Hierfür müssten nur alle Beteiligten enger an
einem Strang ziehen, wie das Beispiel von Sven belegt. Sven ist eines
der 70.000 Kinder pro Jahr, die eines Tages die Schule wohl ohne
jeglichen Abschluss verlassen werden. Zwar ist der Junge gerade erst
einmal 8 Jahre alt und geht erst das zweite Jahr in die Schule. Doch
Sven zählt zu den Kindern, die in sozial belasteten und so genannten
bildungsfernen Familien aufwachsen müssen. Die sprachliche Anregung
erfolgt bei Sven fast ausschließlich über die Medien, die rund um die
Uhr auf ihn einprasseln. Die daraus resultierenden
Entwicklungsdefizite bleiben häufig lange Zeit unentdeckt, weil die
Eltern von Frühen Hilfen oder Früherkennungsuntersuchungen häufig
nichts wissen. Und selbst wenn bei der Vorsorge
Entwicklungsauffälligkeiten festgestellt werden, deren Ursachen auch
im sozialen Umfeld liegen, fehlen dem Kinder- und Jugendarzt die
nötigen Helfersysteme.
Da Kinder sehr früh und regelmäßig in den Praxen gesehen werden,
kommt es in den ersten Lebensjahren darauf an, dass Kinder- und
Jugendärzte auch das Lebensumfeld der Kinder im Blick haben, sagt der
Sozialpädiater Prof Volker Mall, Ärztlicher Direktor im Kinderzentrum
München. Nur so könne gesellschaftlich bedingten
Entwicklungsstörungen, Krankheiten oder Kindesvernachlässigungen
frühzeitig begegnet werden.
Doch dieser Zug, auf den Sven hätte aufspringen können, ist längst
ohne ihn abgefahren. Denn erst im Alter von fast schon 5 Jahren wird
bei ihm in der kinderärztlichen Praxis eine Sprechstörung
festgestellt. Diese wäre auch noch leicht zu beheben gewesen, wenn
die Eltern und die Kita das Kind bei der Sprachanregung unterstützen
würden. Doch die Eltern sind dazu nicht in der Lage und in der Kita
fehlen hierfür in den meisten Bundesländern die personellen
Voraussetzungen und spezielle frühkindliche Sprach- und
Bildungsprogramme. Svens Auffälligkeiten werden daher schnell mit
medizinischen Diagnosen belegt. Zunächst wird er einer Logopädin
vorgestellt, die sich einmal pro Woche für 45 Minuten redlich, aber
vergeblich abmüht. Bald müssen Medikamente verabreicht werden, um
erste aggressive Auswüchse des Jungen einzudämmen. Doch trotzdem
zeigen sich bei Sven bereits in den ersten beiden Schuljahren starke
Konzentrationsmängel, Wahrnehmungsstörungen und - mittlerweile -sehr
deutliche Sprachdefizite. Wie bei jedem fünften Kind, das hierzulande
in anregungsarmen Familienverhältnissen aufwächst, nimmt auch bei
Sven das Unheil seinen Lauf, weil entscheidende Weichenstellungen
verpasst wurden.
Doch wie könnten die Weichen besser gestellt werden? Nach Ansicht
von Volker Mall nur dadurch, dass Kinder- und Jugendärzte künftig
ganz eng mit Pädagogischen Einrichtungen, Sozial- und Jugendämtern,
Frühförderstellen, Familienhebammen und
Familienkinderkrankenpflegerinnen zusammenarbeiten, so wie es seit
langem schon die Kolleginnen und Kollegen der Kinder- und
Jugendärztlichen Dienste im Öffentlichen Gesundheitsdienst tun. Dies
ist ja auch genau die Zielsetzung der "Bundesinitiative Netzwerke
Frühe Hilfen und Familienhebammen" im Rahmen des 2012 in Kraft
getretenen Kinderschutzgesetzes. Dessen Intention ist es, in allen
Bundesländern lokale Netzwerke zu initiieren, um die Zusammenarbeit
zwischen allen Berufsgruppen rund um die Familie zu verbessern.
Immerhin sind bis Ende 2015 dafür 177 Millionen Euro vorgesehen,
bekräftigt die DGSPJ. Damit sollen regionale Netzwerke auf- oder
ausgebaut, Ehrenamtliche qualifiziert und Familienhebammen eingesetzt
werden. Erste Erhebungen von Prof. Manfred Cierpka (Universität
Heidelberg) belegen, dass gerade die regelmäßigen Hausbesuche der
Familienhebammen die Entwicklungsperspektiven von Kindern aus sozial
benachteiligten Familien verbessern. Und dennoch: Die Frühen Hilfen
greifen oft noch nicht richtig. Dies liegt laut Mall vor allem daran,
dass
- der Austausch zwischen Jugendhilfe und Gesundheitswesen noch
nicht optimal funktioniert. Barrieren wie Schweigepflicht,
einseitige Informationspflicht und unterschiedliche
Systemlogiken stehen als Hindernisse im Weg.
- die Rolle der Kinder- und Jugendärzte bei den Frühen Hilfen
häufig nicht klar definiert ist
- die Kostenübernahme für Kooperationsstrukturen bisher bundesweit
nicht verbindlich geregelt ist. In Svens früher Kindheit steckte
das System "Frühe Hilfen" noch in den Kinderschuhen. Die neuen
"Frühen Hilfen" haben das Potential, solche Schicksale in
Zukunft eher zu verhindern. Raimund Schmid
Pressekontakt:
Weitere Infos bei: Volker.Mall@kbo.de und
unter geschaeftstelle@dgspj.de